Vor 2000 Jahren hatte das jüdische Volk Bräuche, die uns heute sehr unbekannt vorkommen. Einer dieser Bräuche war, dass der Bräutigam nach der Verlobungsfeier mehrere Jahre lang, teilweise ein Dutzend Jahre, Tora lernte und erst danach zu seiner Verlobten zurückkehrte und das Eheleben begann.
Das Studium wurde von der Familie der Braut bezahlt. Auf diese Art und Weise konnten die Brauteltern in die Gelehrsamkeit des zukünftigen Schwiegersohnes und damit auch in das Ansehen der Familie investieren. Der Bräutigam wiederum konnte sich dem Torastudium widmen, ohne sich um die Finanzierung zu sorgen. Der Talmud (Ketubot 62b) berichtet von einer solchen Verlobung.
Toralernen Der Sohn von Rabbi Jehuda Hanasi sollte die Tochter von Rabbi Jossi ben Zimra heiraten, um dann für zwölf Jahre das Land zu verlassen und dem Studium der Tora nachzugehen. Die Ehe war zuvor von den Vätern arrangiert worden. Doch diesmal sollte es anders kommen: Als der Bräutigam seine zukünftige Braut erblickte, war er derart angetan von ihrer Schönheit, dass er den Vater des Mädchens darum bat, das Studium auf sechs Jahre zu verkürzen.
Als er einen weiteren Blick auf sie geworfen hatte, bat er darum, sie sofort heiraten zu dürfen und erst später studieren zu gehen.
Daraufhin begab sich der Bräutigam beschämt zu seinem Vater. Er war überzeugt davon, dass dieser ihn dafür ermahnen würde. Schließlich war seine Begeisterung für die Schönheit der Braut so groß gewesen, dass er, anders als es sein gelehrsamer Vater von ihm erwartete, seinem Studium nicht die erste Priorität gab.
Doch sein Vater reagierte entspannt und sagte, dass sein Verhalten dem des Schöpfers ähnele. Rabbi Jehuda Hanasi machte seinen Sohn dabei auf zwei Stellen in der Tora aufmerksam: »Du (G’tt) bringst sie (die Israeliten) hinein (in das Land Israel) und pflanzt sie ein auf dem Berg deines Erbteils (dem Tempelberg in Jerusalem), den Du, Ewiger, Dir zur Wohnung gemacht hast, zu Deinem Heiligtum, Ewiger, das Deine Hand bereitet hat« (2. Buch Mose 15, 16–17). Aus diesem Vers wird deutlich, dass die Israeliten zuerst nach Israel geführt werden und erst danach das Heiligtum erbaut wird.
Später heißt es: »Und sie sollen mir ein Heiligtum (in der Wüste) machen, dass ich unter ihnen wohne« (25,8). Aus diesem Vers ist jedoch ersichtlich, dass bereits vor dem Einzug nach Israel ein Heiligtum erbaut werden soll.
Rabbi Jehuda Hanasi erklärte seinem Sohn, dass G’tt selbst – wie ein Bräutigam, der seine Braut erblickte – nicht mehr bis zum Einzug nach Israel warten wollte, um seiner Braut, dem Volk Israel, zu begegnen.
G’ttesbild Diese Geschichte ist zentral für das Verständnis des talmudischen G’ttesbildes. G’tt und das Volk Israel werden mit einem Bräutigam und einer Braut verglichen und der Tempel als Ort ihrer Begegnung betrachtet, oder um es mit den Worten des Talmuds zu sagen, als der Ort, an dem »Himmel und Erde sich küssen«.
Die Metaphorik von Braut und Bräutigam, stellvertretend für G’tt und das Volk Israel, ist aus den biblischen Büchern bekannt. Schon der Prophet Jirmejahu vergleicht das Volk Israel mit einer Braut und G’tt mit einem Bräutigam: »So spricht der Ewige: Ich denke daran, wie viel Zuneigung du mir in deiner Jugend gezeigt hast. Du hast mich geliebt, wie eine Braut ihren Bräutigam liebt. Du bist mir durch die Wüste gefolgt, durch das dürre Land. Damals gehörte Israel nur mir allein, so wie die erste Frucht der Ernte mir gehört« (2, 2–3).
In den biblischen Schriften gibt es verschiedene Metaphern für das Verhältnis zwischen G’tt und Mensch: Vater und Kind, König und Diener – um nur einige zu nennen. Die Metaphorik von Braut und Bräutigam drückt eine neue Idee aus: Das Verhältnis zu G’tt kann von Begierde, Vorfreude und frischer Verliebtheit geprägt sein.
Talmudisches