Es trug sich zu, dass einer der Schüler Rabbi Akivas erkrankte, und keiner der Weisen besuchte ihn. Da ging Rabbi Akiva zu ihm, und weil der Kranke Zuwendung erfuhr, wurde er gesund und dankte Rabbi Akiva, dass dieser ihm das Leben gerettet hatte.
Hierauf ging Rabbi Akiva hinaus und trug vor: »Wer den Kranken besucht, verursacht, dass er lebe; und wer den Kranken nicht besucht, verursacht, dass er sterbe« (Talmud Nedarim 40a).
Kranke Menschen brauchen ein verstehendes Gegenüber, vor allem dann, wenn sie lernen müssen, dass auch ein Leben mit Krankheit wertvoll bleibt und dass sie in ihrem Leben Dinge hinnehmen müssen, die sie nicht selbst gewählt haben.
Ein verstehendes Gegenüber hat heilende Kräfte. Aber damit ist nicht immer ein Begriff von Heilung gemeint, der sich als Wiederherstellen körperlich-funktioneller Intaktheit versteht. Es kann auch heilsam sein, einem Kranken dabei zu helfen, sich in ein gutes Verhältnis zu seinem Kranksein zu setzen und ihn dabei zu unterstützen, in sich selbst Ressourcen zu entdecken, die helfen, das Unabänderliche besser zu ertragen.
Kraftquellen Der Kranke als bester Experte seines eigenen Lebens muss behutsam dahin geführt werden, diese inneren Reserven und Kraftquellen zu finden und zu erkennen, was ihm wirklich hilft. Das bedeutet letztlich, dass Kranke durch eine empathische Begleitung überhaupt erst zur Wahrung ihrer Selbstbestimmung befähigt werden. Indem diese Begleitung ohne vorgefasste Meinungen oder feststehende Antworten geschieht und sich ganz und gar auf den Kranken einlässt, ist tatsächlich die authentische Autonomie gewahrt. Die Empathie ist weniger Mittel zum Ziel als bereits selbst das Ziel.
Im Talmud (Schabbat 12b) finden wir eine wunderbare Anleitung für die Begegnung mit Kranken, die ganz und gar in dieser Grundhaltung der empathischen Begleitung und des verstehenden Gegenübers geschieht: »Wer einen Kranken besucht, setze sich weder erhöht auf dessen Bett oder einen Stuhl, sondern er hülle sich ein und setze sich dem Kranken auf Augenhöhe gegenüber, denn die Schechina, die Präsenz des Göttlichen, befindet sich über der Kopfseite des Kranken.«
Wenn sich der Arzt in der Begegnung mit dem Kranken mit ihm auf Augenhöhe begibt (sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne), seine Gegenwart also mit allen schmerzlichen und positiven Seiten sieht und sich auf ihn als einzigartige Persönlichkeit einlässt, ist er zu einer tiefen Begegnung fähig. Diese macht beide offener und ermöglicht ihnen Momente, in denen sie die Schechina (die »göttliche Präsenz«, das »Transzendente« oder das »Spirituelle«) erfahren.
Begegnung Man muss an Martin Bubers dialogische Philosophie in Ich und Du denken, die sich auf seine, wie er selbst einmal formulierte, »urjüdische« Glaubenserfahrung bezog. Nach Buber ist die unmittelbare Begegnung mit einem Menschen stets auch eine Begegnung mit dem Göttlichen. Dabei mindert alles Mittelbare die Beziehungskraft, weshalb man die vorgefassten Meinungen und mitgebrachten Antworten »einhüllen« muss. In der Begegnung mit einem anderen Menschen, und gerade in der Begegnung mit kranken, fragilen und hilfsbedürftigen Menschen, offenbart sich das Göttliche. Ärzte und Pflegende müssen sich dazu aber in Demut, Aufrichtigkeit und wirklicher Empathie öffnen und dürfen den anderen nicht als Objekt wahrnehmen.
Buber sagt weiter, dass jeder, der sich dieser spirituellen Dimension öffnet, direkte Antworten auf seine existenziellen Fragen erhält. Umgekehrt und in anderen Worten, nämlich denen von Rabbi Mosche Feinstein sel. A., der als anerkannte Autorität in jüdischer Medizinethik gilt, bedeutet dies: In schwierigen Fragen am Lebensende und in Fällen, in denen es schwerfällt, die richtigen Entscheidungen zu treffen, äußert sich der göttliche Wille in den Wünschen des Kranken. Auf sie soll man sich einlassen, sie verstehen und auf sie hören.
Der Autor ist Palliativmediziner am Klinikum Bielefeld und Mitglied der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld »Beit Tikwa«.