Ein zierliches, abgegriffenes hellblaues Buch liegt in einer Vitrine, daneben ruht ein pompöser Foliant mit dunklem Einband. Das blaue Buch stammt aus den 30er-Jahren. Es ist die Pessach-Haggada der Familie Fuhrmann aus Emden und eines der wenigen Familienerbstücke, das der elfjährige Robert Fuhrmann in der Hand hält, als er 1938, drei Wochen nach der Pogromnacht, mit falschen Papieren in Argentinien an Land geht – mit Umwegen über Holland, Frankreich und Paraguay.
Das große Buch daneben ist ein Unikat: der Prototyp für eine Haggada in Form eines zeitgenössischen Künstlerbuchs – handgebunden, handkoloriert und in limitierter Auflage. Robert Fuhrmanns Sohn Ricardo hat es illustriert, nach Vorlage der hellblauen Familienhaggada und zusammen mit seinem Künstlerkollegen und Freund Daniel Jelin.
Die beiden jüdischen Künstler, die seit etwa 20 Jahren in Norddeutschland leben, sehen ihre Haggada ganz bewusst in der Tradition illuminierter Haggadot – einer Zusammenstellung von biblischen Texten, Gebeten, Liedern und Psalmen auf Hebräisch und Aramäisch, die vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten erzählen und jedes Jahr jüdische Familien in aller Welt am Pessachfest durch den Sederabend begleiten.
hommage Am Montag stellte Ricardo Fuhrmann das Buchprojekt im Centrum Judaicum vor. Die Ostfriesland-Haggada soll sich in die Tradition jener Werke einreihen, die nach ihrem Entstehungsort benannt werden – so wie im Mittelalter die Prager, Amsterdamer oder Venedigs Haggada. Die Künstler verstehen die Namensgebung dabei auch als Hommage an ihre Wahlheimat, die für Ricardo Fuhrmann gleichzeitig Heimat seiner Vorfahren ist.
Reinhold Robbe, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), würdigte das Projekt als »neue Art und Weise, das Thema Haggada aufzugreifen, erst als Kunstausstellung, nun als Künstlerbuch«. Die Bilder, Collagen und Videos waren 2013 als Wanderausstellung in mehreren deutschen Städten und 2014 in der Knesset, dem israelischen Parlament in Jerusalem, gezeigt worden.
Wolfgang Freitag von der DIG Ostfriesland hat das Projekt von Anfang an unterstützt – auch weil sich 77 Jahre nach der Flucht der Familie Fuhrmann aus ihrer Heimat ein Kreis schließe, der bezeuge, wie »jüdische Facetten wieder in die ostfriesische und damit in die deutsche Kulturlandschaft« gehören.
Auf einer der Illustrationen sind die Umrisse eines Menschen zu sehen, in dessen Herzen eine Rose blüht. »Wenn Sie genau hinschauen«, fordert Wolfgang Freitag das Publikum auf, »dann erkennen Sie darin die ostfriesische Rose – das Symbol Ostfrieslands.«
zukunft Im Namen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sprach Gemeinderabbiner Jonah Sievers die Hoffnung aus, dass das Buch jedoch nicht nur ein Kunstbuch bleiben, sondern »seinen Weg zu vielen aktiven Betern finden« möge. Er bezeichnete die Ostfriesland-Haggada, 70 Jahre nach der Schoa und »zerstörter jüdischer Landschaften«, als »schönes Zeichen der Hoffnung für die Zukunft«.
Der Künstler Ricardo Fuhrmann hatte sich jahrzehntelang mit jüdischer Buchkunst und der Tradition der Pessach-Haggadot beschäftigt, bevor er sich an das Projekt wagte. Er lernte mit Rabbinern, befragte Gelehrte und ließ sich vom argentinischen Haggada-Sammler Herbert Jonas die ganze Bandbreite der Haggadot zeigen.
»Die Haggada ist ein Buch in Bewegung, es spiegelt je nach Zeitepoche verschiedene Konzepte von Freiheit wider«, erklärt Fuhrmann seine Faszination. So seien in seine Haggada verschiedene Themen und ihre Darstellung eingeflossen: Das Stottern von Moses stellen die Künstler als Steine in Wörtern und als kleine geknotete Päckchen dar, die Trauer um den Tod der Ägypter in Form von Weinklecksen auf zehn festlichen Krawatten.
Auch der Arbeitsprozess der beiden Künstler selbst spiegelt ihre intensive Auseinandersetzung mit Kunst und Religion wider: Wie beim Talmudlernen hätten sie einander Halt gegeben, um sich nicht selbst »in den Tiefen zu verlieren«. «Der eine ist des anderen Anker – eine Chavruta im übertragenen Sinne«, sagt Fuhrmann.