Mein Freund Schmulik fühlte sich verfolgt. Er rief mich an – was sehr ungewöhnlich ist. Denn meistens schreibt er irgendwelche Belanglosigkeiten per Mail oder SMS. Ob ich es auch schon bemerkt hätte, fragte er mich. Ob man schon darüber spricht? Immerhin hätte er Familie. Er in seiner Position könne sich keine Fehltritte leisten. Wenn das jetzt herauskommt? Was solle er nur tun? Ich hatte keinen blassen Schimmer, worüber er redete.
Dilemma »Was ist passiert? In welches Dilemma hast du dich dieses Mal gebracht?«, wollte ich wissen. Er fragte mich: »Kennst du diese große blonde Frau aus der Synagoge? Die immer Rollkragen trägt?« Ich wusste, wen er meinte. »Diese Rachel?« Nicht, dass sie mir irgendwie besonders aufgefallen wäre, aber ich erinnerte mich an ihren Namen. »Was ist mit Rachel?«
»Das würde ich auch gern wissen!«, rief Schmulik durchs Telefon. »Egal wo ich hingehe, sie kommt auch dazu oder ist schon da. Selbst bei diesem langweiligen Vortrag über die Flora im Talmud, der auf 14 Abende angelegt war. Meistens kommt sie herein und winkt mir zu oder lächelt mich an, sobald ich mich umdrehe und sie sehe.«
Mittlerweile hat Schmulik eine regelrechte Paranoia entwickelt. Er setzt sich auf Plätze, die man nicht so gut sehen kann. Manchmal hockt er hinter einer Säule. »Ich kann gar nicht mehr unbefangen aus dem Haus gehen«, klagt er. »Stell dir mal vor, das bemerkt jemand aus der Gemeinde! Wenn sich das Klatsch-Karussell anfängt zu drehen, dann bin ich im Handumdrehen der Junge, der vom Holzpferd gestoßen wird.«
Was sollte man dazu sagen? Also antworte ich, Rachel weiß bestimmt, dass Schmulik Familie hat und alles gut, ja bestens läuft. Ich habe ihm davon abgeraten, sie vor versammelter Gemeinde zur Rede zu stellen. Das hätte sicher einen gegenteiligen Effekt.
Rachen Eine Woche nach dem Gespräch sehe ich die besessene Rachel in der Synagoge. Schmulik ist nicht da. Es gelingt mir, ihr auszuweichen. Aber später, beim Kiddusch, steuert sie mich gezielt an. Mein Rachen wird trocken. Doch bevor ich mich auf die Toilette retten kann, baut sie sich vor mir auf. Meine Güte, ist die groß!
»Wo ist dein Freund Schmulik?«, fragt sie. Oh weh, denke ich, er hatte recht, sie verfolgt ihn. »Schmulik ist doch sonst überall, wo ich bin.« Manchmal würde er sich sogar hinter Säulen verstecken, damit er sie beobachten könne, ohne gesehen zu werden. »Ständig sucht er nach mir. Überall. Immer kreist sein Blick durch den Raum, sogar in den seltsamsten Kursen stellt er mir nach. Hat dein Freund vielleicht ein Stalking-Problem?« Sie könne zu keiner jüdischen Veranstaltung mehr gehen, ohne ihn zu treffen. Er solle mal an seine Familie denken.
Was soll man da sagen? Bei einer überschaubaren Anzahl von Juden ja wohl eine Frage der Zeit, dass man sich über den Weg läuft, oder? Das funktioniert wunderbar, solange nicht zwei Kandidaten aufeinandertreffen, die ein Ego-Problem haben. Nach Schabbes habe ich Schmulik angerufen und ihm geraten, sich vielleicht mehr im orthodoxen Bereich zu engagieren. Da bleiben Männer häufiger unter sich.