Lebensqualität

Die richtige Balance

Führungskräfte, die sich für ihre Kinder nicht genügend Zeit nehmen, fühlen sich oft schuldig. Foto: Thinkstock

Die zehn Minuten, die ich nachts meinen Kindern widme, bedeuten mir eine Million Mal mehr, als diese zehn Minuten mit Arbeit zu verbringen», sagte einer der Interviewpartner in einem Beitrag der Harvard Business Review (HBR) zur «Work-Life-Balance» internationaler Topmanager.

Das Ziel, ein erfülltes, gelungenes Leben zu führen, kann mit hohen Karriereansprüchen in Konflikt geraten. Um es mit Rabbi Tarfon zu sagen: «Der Tag ist kurz, und die Arbeit ist zahlreich, und die Arbeiter sind träge, und der Lohn ist hoch, und der Meister drängt.» Kein Wunder, dass einige der von HBR befragten Manager es für unmöglich halten, «ein großartiges Familienleben, Hobbys und eine erstaunliche Karriere» gleichzeitig zu verwirklichen.

Verantwortung Aber was ist ein gelungenes Familienleben? Viel wurde über die Verantwortung von Managern gegenüber ihren Mitarbeitern, Kunden und Investoren, gegenüber der Gesellschaft, Öffentlichkeit und Umwelt diskutiert.

Doch die Debatte über die Verantwortung der Manager gegenüber ihren Familien steht noch ganz am Anfang. Jüdische Traditionen können hier einen Beitrag zur Sinn- und Normenfindung leisten – verstehen doch diese sowohl ein Familienleben als auch einen Beruf gleichermaßen als erstrebenswert.

«Are you lonesome tonight?» Basierend auf der biblischen Feststellung: «Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei», überliefert der Talmud eine Lehre von Rabbi Tanchum im Namen Rabbi Chanilais: «Jeder Mann, der keine Frau hat, wird überflutet mit einem Mangel an Freude, Segen und Allgüte.» Im gleichen Traktat wird festgestellt: «Es ist besser für eine Frau, zu zweit als alleine zu leben.»

Dieser traditionell empfohlene Verbund zweier Menschen soll aus talmudischer Sicht innerhalb einer Ehe verwirklicht werden, was knapp 90 Prozent der Männer und genau 70 Prozent der Frauen, die für die erwähnte HBR-Studie befragt wurden, auch tun.

Stütze Im Ehepartner findet man laut biblischem Ideal einen «Helfer an seiner Seite» – wenn man jedoch keinen verdient, so die Interpretation des Kommentators Raschi, steht dort stattdessen ein Gegner. Die Ehe ist im Übrigen kein bloßes Mittel zur Fortpflanzung: Auch wenn bereits Kinder zur Welt gebracht wurden, soll laut Talmud im Eheverbund gelebt werden.

Die Verantwortung eines Ehemannes gegenüber seiner Frau wird in der Ketuba, dem rabbinischen Ehevertrag, festgehalten. Darin verspricht der Mann seiner Frau laut orthodoxer Tradition: «Ich will für dich arbeiten, dich in Ehren halten, dich ernähren und versorgen.»

Zusätzlich garantiert der Mann seiner Frau eine bestimmte finanzielle Entschädigung im Fall von Scheidung oder Verwitwung sowie für Krankenpflege, Lösegeldzahlung und Bestattung.

«Eheliche Pflichten» Die verpflichtenden Zeiten für Intimität in der Ehe werden von der Halacha abhängig vom Berufsstand genau bestimmt. Maimonides erklärt: Arbeitsanstrengung reduziert die verfügbare Energie für den Liebesakt. Ein «Einschnitt» in die Rechte der Ehefrau auf die Erfüllung der «ehelichen Pflicht» des Mannes wegen dessen Beruf ist nur mit ihrer Einwilligung zulässig.

Im Austausch für die in der Ketuba festgeschriebene Versorgung der Ehefrau durch ihren Mann erhält dieser das Anrecht auf ihr Einkommen und Erbe. Zusätzlich werden bestimmte häusliche Aufgaben der Ehefrau übertragen, die jedoch (bis auf die intimeren) an durch die Frau finanzierte Haushaltshilfen delegierbar sind. Der Talmud versucht, mit diesen «Deals» Ressentiments entgegenzuwirken, die bei einer Ungleichverteilung ehelicher Rechte und Pflichten entstehen können.

Entsprechend vermitteln neben diesen Gesetzen der Halacha auch Geschichten und Geisteshaltungen der Aggada Traditionen zur Förderung häuslichen Friedens und ehelicher Harmonie (Schalom Bajit).

Sinn der Ehe sei Leben, nicht Leiden. Zentrale Werte wie Liebe, Verehrung, Zärtlichkeit werden betont; vor deren Verkehrung ins Gegenteil wie Wut, Anspruchshaltung und Unterdrückung wird dagegen gewarnt – denn «keiner kann mit einer Schlange in einem Korb leben».

Hausarbeit Laut Tora können Erwerbstätigkeit und Hausarbeit geschlechtsneutral verteilt werden. In heutigen Konzernen ist dies weniger geläufig: 60 Prozent der von Harvard untersuchten Männer haben Ehepartnerinnen, die nicht außerhalb des Haushalts Vollzeit arbeiten. Bei den Frauen liegt der Wert bei zehn Prozent.

Bibel und Talmud rufen zu Fruchtbarkeit und Vermehrung auf. Das rabbinische Mindestmaß zur Erfüllung dieses Gebots rangiert zwischen einem Einzelkind und zwei Geschwisterpaaren beider Geschlechter. In der HBR-Studie haben Manager im Durchschnitt 2,2 Kinder und Managerinnen 1,7 Kinder.

Eltern sollen auch Lehrer sein (auf Hebräisch unterscheiden sich beide Wörter nur in einem Buchstaben: Horim beziehungsweise Morim). Sechs elterliche Verpflichtungen nennt der Talmud: Beschneidung, Auslösung, Unterweisung in der Tora, Heirat, Berufsausbildung und (nach Ansicht mancher Weisen) auch der Schwimmunterricht. Die Rabbinen erlauben, manche Erziehungspflichten zu delegieren.

Schuldgefühle Doch eine der für die Harvard-Studie interviewten Managerinnen stellte ernüchtert fest: «Wenn man gut bezahlt wird, kann man alle praktische Hilfe bekommen, die man braucht. Das Schwierigste aber ist, dass man sich wirklich schuldig fühlt, wenn man nicht genügend Zeit mit seinen Kindern verbringt.» Die Tora könnte dazu inspirieren, die Ansprüche von Eltern, die Karriere machen, auf ein gesundes Maß zu bringen – also je nach Startpunkt zu steigern oder auch zu reduzieren.

Der Talmud kommt zu dem Schluss: «Über einen Mann, der seine Frau liebt wie sich selbst, der sie mehr ehrt als sich selbst, der seine Söhne und Töchter auf den richtigen Pfad leitet und deren Ehe in jungen Jahren arrangiert, sagt die Schrift: ›Und du wirst wissen, dass dein Zelt in Frieden ist.‹»

Ehepartner und Nachwuchs sind der Kern jüdischer Familienethik. Doch auch Eltern, Großeltern, Geschwister und Angehörige der erweiterten Familie sollen laut Tora explizit beschützt, geliebt und respektiert werden. Angesichts all dieser Ziele und Verpflichtungen jüdischer Familienethik können die zehn Minuten, die den Kindern (statt der Karriere) eingeräumt werden, bloß einen Anfang darstellen.

Nathan Lee Kaplan ist Autor von «Management Ethics and Talmudic Dialectics: Navigating Corporate Dilemmas with the Indivisible Hand». Springer VS, Wiesbaden 2014, 391 S., 59,99 €

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