Tradition

Die »Rache« des Rabbiners

Sie saßen sich im Keller eines freundlichen Hauses in Atlanta gegenüber, ein Rentner aus dem New Yorker Stadtteil Queens und der ehemalige Oberrabbiner Israels. Beide symbolisieren das Wunder der jüdischen Erneuerung. Obwohl sie sich nicht kennen, tragen sie beide den gleichen unermesslichen Schmerz in sich, den der Holocaust in ihre Seelen gebrannt hat.

»Es war die Hölle auf Erden«, sagte der 95-jährige Ben Hiller zu Rabbiner Israel Meir Lau (80), der wissend nickte. »Jeden Tag führten sie Selektionen durch und töteten all jene, die zu schwach waren. Sie nahmen uns einen großen Teil des Essens weg. Wir mussten uns zum Appell aufstellen, alle Gefangenen im Kreis. Die SS-Männer gingen mit ihren Hunden um uns herum, um unser Leiden zu vergrößern.«

Hiller berichtete, er sei das einzige überlebende Mitglied seiner Familie. Von den 6000 Juden aus seiner polnischen Heimatstadt überlebten 17 den Holocaust. Auch die meisten Mitglieder der Familie von Israel Meir Lau – er war von 1993 bis 2003 aschkenasischer Oberrabbiner Israels und ist seit 2005 Oberrabbiner von Tel Aviv – wurden von den Nazis ermordet.

Nur sein älterer Bruder, ein Halbbruder sowie ein Onkel, der nach Palästina ausgewandert war, überlebten. Als achtjähriger Junge mit dem Spitznamen Lulek wurde Lau 1945 von den alliierten Streitkräften in Buchenwald befreit. Wie seine männlichen Vorfahren seit 38 Generationen wurde auch er Rabbiner – eine Tradition, die sich über 1000 Jahre erstreckt.

Triumph Rabbi Lau war an diesem Tag zur Eröffnung der frisch renovierten Synagoge der Beth-Jacob-Gemeinde nach Atlanta gekommen. Wieder und wieder berichtet er von dem, was er als Triumph des Judentums versteht. In dem privaten Treffen vor der Zeremonie erzählte Ben Hiller stolz von seinen Söhnen – beide sind Rabbiner geworden –, den 15 Enkeln und 40 Urenkeln.

Rabbi Laus Augen funkelten vor Freude. »Das ist der Nachas (Stolz). Und der größte Sieg. Sie halten die Jiddischkeit, das Judentum am Leben. Der Krieg der Nazis war nicht nur gegen Juden gerichtet, es war auch ein Krieg gegen das Judentum. Sie zerstörten 1046 Synagogen in einer einzigen Nacht. Es waren nicht jüdische Banken, Kliniken oder Läden, die die Nazis niederbrannten, sondern Synagogen. Wenn Sie überlebt und eine wunderbare Familie gegründet haben, ist das ein doppelter Sieg, ein körperlicher und ein geistiger.«

Wunder Rabbi Lau selbst überlebte die Konzentrationslager wie durch ein Wunder und wurde Oberrabbiner von Israel und Vorsitzender der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Sein Sohn David Lau trat in seine Fußstapfen und wurde 2013 Oberrabbiner von Israel.

»Was ist das Geheimnis unseres ewigen Bestehens?«, fragte Rabbiner Lau rhetorisch. »Schauen Sie auf die Wände, die Decke, die Bundeslade an der Ostseite. Hier liegt die Antwort. Die Antwort ist die Synagoge und die Tradition. Das jüdische Erbe hält uns als Nation aufrecht, trotz aller Pogrome und trotz des Holocaust. Die Nazis wussten, dass die Synagoge das Herz ist, unser Herz. Wenn es lebendig ist, sind wir lebendig. Drei Funktionen erfüllt die Synagoge: Sie ist Ort des Gebets, des Torastudiums und der Ort, an dem wir uns versammeln.«

Das Leben von Rabbi Lau ist eine besondere Form von »Rache«: Er tröstet Mit-Überlebende des Holocaust, er richtet Juden und Nichtjuden seelisch auf, und er teilt seine alters- und zeitlose Weisheit mit der ganzen Welt. Es begann damit, dass ihm, nachdem er aus Buchenwald befreit worden war, jemand eine Uniform der Hitlerjugend gab, denn er besaß keine andere Kleidung. In seiner Autobiografie Out of the Depths (Aus der Tiefe) erzählt Lau: »Der amerikanische Soldat fragte mich, was ich mit meinem Leben anfangen wolle, und ich antwortete: ›Ich will Rache nehmen‹. Als er das hörte, gab er mir sein Gewehr.«

Lau trug das Gewehr mit sich, quer durch Deutschland, nach Frankreich und Italien und schließlich 1945 nach Palästina. Als er älter wurde, lernte er begreifen, dass es andere Wege gibt, die Feinde zu besiegen, die die Flamme der jüdischen Tradition zu löschen versuchen.

Geschichten Lau erzählt häufig Geschichten. Eine davon hat er nicht in sein Buch aufgenommen, weil der Protagonist, ein bescheidener Lehrer in Israel, zur Zeit der Veröffentlichung noch lebte. Als Kind erlebte Lau in Buchenwald den Schabbat Hagadol, den Schabbat vor dem Pessachfest: »Im letzten Kriegsjahr, 1945, es war bereits das sechste Jahr, sahen wir kein Licht am Ende des Tunnels. Was wir sahen, war, wie der Abgrund um uns tiefer und tiefer wurde. Stunde um Stunde kam ein Zug an. Hunderte von jüdischen Kriegsgefangenen wurden in die Konzentrationslager gebracht, aus Holland, Frankreich, Österreich, Deutschland, Russland, Litauen, Lettland, Ungarn, Griechenland, Nordafrika.«

Neben seinem Bruder Naphtali gab es zwei Mitgefangene aus dem polnischen Städtchen, aus dem Rabbi Lau stammte: Leibel und sein Sohn Moische. Leibel war sehr krank. Naphtali wollte nicht, dass der Sohn seinen Vater sterben sah, daher tat er so, als würde er Leibel in ein Krankenhaus bringen.

Doch dann starb Leibel draußen im Freien. Moische, verstört, weil es keine Beerdigung, kein Grab und keine Schiwa geben würde, bestand darauf, das Kaddisch für seinen Vater zu sagen. »Ich weiß, dass es meine Pflicht ist. Geben Sie mir für fünf Minuten einen Siddur«, bat der Junge. Die jüdischen Männer antworteten: »Moische, bist du verrückt? Es gibt hier keinen Siddur, das ist verboten in Buchenwald.«

Doch einer der Männer flüsterte ihm ins Ohr, ein alter Jude, der in der Wäscherei arbeite, habe vielleicht irgendwo im KZ einen Siddur versteckt. Moische ging zur Wäscherei und flehte den alten Mann an: »Mein Vater ist vor einer Stunde gestorben. Ich kann nicht um ihn trauern, ich kann das Kaddisch nicht auswendig. Können Sie mir für fünf Minuten Ihren Siddur leihen?«

Siddur Der alte Mann war entsetzt. »Rede nicht über einen Siddur. Das ist verboten!« Moische spürte, dass der Mann tatsächlich einen Siddur versteckt hatte. Er nahm 150 Gramm Brot, seine tägliche Ration in Buchenwald, aus der Tasche seiner gestreiften KZ-Hose und reichte sie dem alten Mann. »Bitte geben Sie mir Ihren Siddur. Nur für fünf Minuten! Ich werde heute fasten, aber ich muss das Kaddisch für meinen Vater sagen.«

Der alte Mann antwortete: »Behalte dein Brot, du bist jung. Ich hoffe, du wirst überleben.« Er verließ die Wäscherei für ein paar Minuten und kehrte mit einem Siddur zurück. Moische nahm zehn Hemden, die ermordeten Juden gehört hatten, als Minjan und sagte das Kaddisch für seinen Vater.

Vergangenes Jahr starb Moische als alter Mann. Rabbiner Lau erzählte die Geschichte auf seinem Begräbnis. »Moische, was für ein Glück du hast. Deine drei Söhne stehen hier, um das Kaddisch für dich zu sagen! Sie müssen nicht mit ihrem Brot bezahlen. Wir sind nicht mehr im Konzentrationslager. Wir sind in Eretz Israel.«

Die Geschichte von Moische ist für Rabbi Lau ein weiterer Triumph über den Holocaust. »Wir werden es nie vergessen: Ein Kind war bereit, sein Essen hinzugeben und zu hungern. Es geschah in unserer Zeit. Nicht zur Zeit von Rabbi Akiwa. Wenn wir heute in Atlanta die Juden mit der Tora tanzen sehen, ist die Kette ungebrochen. Wir sind eine Nation. Wir dürfen hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.«

Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.aish.com

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