Die jüdische Tradition betont weniger den abstrakten Glauben, als vielmehr die konkrete Praxis. Dadurch ergibt sich die Notwendigkeit, eine Umgebung zu wählen und Gewohnheiten anzunehmen, die dem menschlichen Weiterkommen förderlich sind. Eine der berühmtesten Aussagen dazu ist die Erklärung im Sefer Hachinuch, in der es heißt, die praktischen Gebote seien notwendig, weil »das Herz den Taten nachfolgt«. Die Tora legt nicht irgendein spezielles Gefühl oder eine bestimmte Charaktereigenschaft nahe, sondern beeinflusst uns, indem sie uns an Handlungen und Erfahrungen gewöhnt, die ihrerseits eine aufgeklärte Sicht begünstigen.
Botschaften Zweifellos werden unsere Ansichten und Gewohnheiten stark beeinflusst von den Botschaften, die die Kommunikationsmedien und Künste verbreiten und denen wir ausgesetzt sind. Aus diesem Grund werden für Werbekampagnen Hunderte von Milliarden Dollar ausgegeben, um auf die Kaufentscheidungen der Konsumenten einzuwirken. Das Gleiche gilt für die Musik.
Rabbi Yehudah Amital erläuterte diesen Sachverhalt anhand einer Geschichte. In unseren täglichen Gebeten ist die Kaddisch-Rezitation das häufigste Motiv. Der Gebetsleiter oder Trauernde erklärt: »Erhoben und geheiligt werde sein großer Name« auf der Welt. Und die Gemeinde antwortet: »Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit!« Der Talmud hebt die Bedeutung dieser Erwiderung hervor und sagt, dass jeder, der diese Erklärung mit ganzer Kraft und großer Konzentration ausspricht, vor bösen Gesetzen errettet wird. Doch wir müssen uns eingestehen, dass viele von uns diese Höhe der Begeisterung nicht erreichen; und gelegentlich (oder auch öfter als gelegentlich) antworten wir rein automatisch.
Rabbi Amital erzählt die Geschichte von einem Schüler, der zu seinem Rabbiner kam und meinte, er komme sich wie ein Heuchler vor, da er das »Sein großer Name sei gepriesen« wieder und wieder ganz mechanisch aufsage. Vielleicht wäre es besser, es einfach wegzulassen. Der Rabbiner erwiderte: »Was würde geschehen, wenn wir alle zehnmal am Tag ausrufen würden: ›Trink Coca-Cola!‹? Glauben Sie nicht, dass das auf uns eine Wirkung haben würde, selbst wenn wir es auf mechanische, ge-
wohnheitsmäßige Weise sprächen? So beeinflusst uns auch die Erwiderung auf das Kaddisch, auch wenn wir die Wirkung nicht gleich spüren können.«
Einfluss Untersuchungen haben ergeben, dass junge Menschen jeden Tag hunderte Male populärer Musik ausgesetzt sind, die gewalttätige sexuelle Beziehungen oder gewalttätige und antisoziale Taten glorifizieren und zur Ablehnung von Autorität anspornen. Es ist einfach nicht realistisch, zu glauben, diese Botschaften hätten keinen Einfluss auf den Charakter eines Menschen – insbesondere den noch formbaren Charakter eines jungen Menschen, der in der Entwicklung ist. Und Forschungsergebnisse bestätigen diesen Einfluss. Musik ist eine besonders wirksame Art der Botschaft. In unserer Überlieferung wird die Macht der Musik, unsere Emotionen und unseren Charakter zum Guten und zum Bösen zu beeinflussen, wiederholt thematisiert. In der Heiligen Schrift wird berichtet, dass David einst die Harfe für Saul spielte, um Sauls sorgenschweren Geist aufzurichten (1. Samuel, Kapitel 16); und der Prophet Elischah pflegte den Geist der Prophezeiung in sich hineingehen zu lassen, indem er sich Musik vorspielen ließ (2. Könige 3:15). Musik ist eine mächtige Art und Weise, die Lobpreisung Gottes kundzutun (Psalmen, Kapitel 150) oder auf einer Hochzeit Freude auszudrücken (Jeremias 33:11).
Der Talmud weiß auch, dass Lieder helfen können, uns bei der Arbeit zu motivieren und einen Rhythmus zu finden. Maimonides erklärt, Musik trage dazu bei, uns aufzumuntern, wenn wir uns niedergeschlagen fühlen. Wir wissen aber auch, dass Musik einen negativen Einfluss haben kann. Unsere Weisen befürchteten zum Beispiel, die Vertiefung in die Musik könnte dazu führen, dass wir die Zerstörung des Tempels vergessen. Den Menschen heute fällt es schwer, die Bedeutung der Erinnerung an den alten Tempel zu verstehen. Im Grunde hatten die Rabbiner Angst, dass Musik als eine Art Beruhigungspille funktioniert und uns die Tatsache vergessen lässt, dass die Welt wesentlich unvollständig ist, solange die göttliche Gegenwart nicht beständig unter uns ist.
Inspiration Daher besteht der beste Nutzen der Musik darin, dass sie uns inspiriert, auf eine höhere Stufe zu gelangen: auf eine höhere Stufe der Freude am Dienst Gottes (Musik für Braut und Bräutigam zu spielen zum Beispiel); auf eine höhere Stufe des Bewusstseins und der Lobpreisung Seines wohltätigen Wirkens (insbesondere in religiöser Musik); sogar auf eine höhere Leistungsstufe bei unserer Arbeit. Heute, da aufgezeichnete Musik die Regel ist, ist nichts verkehrt daran, nebenbei Radio oder CDs zu hören, solange sie keine negativen Botschaften aussendet. Doch das unüberlegte Hören birgt zweifellos eine Gefahr. Wir alle müssen uns schützen und aufpassen, dass wir keinen antisozialen Botschaften ausgesetzt sind, und dass wir jenen, die wir nicht vermeiden können, bewusst widerstehen.
Das Bemühen, zwischen konstruktivem und antisozialem künstlerischen Ausdruck eine klare Linie zu ziehen, ist alt. Das bekannteste Beispiel ist das universelle Klassifizierungssystem für amerikanische Filme. Es gibt Initiativen für eine ähnliche Klassifizierung von Websites. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist das amerikanische »Parents Music Resource Center«, das einigen Erfolg damit hat, die Musikproduzenten zu bewegen, Rockmusik nach gewalttätigen und explizit sexuellen Inhalten zu klassifizieren.
Gewalt Am augenscheinlichsten wird das Problem bei solchen Liedern, die Verhaltensweisen glorifizieren, die wir verurteilen: Gewalt, selbstzerstörerische Praktiken wie Drogenmissbrauch oder auf Ausbeutung beruhende sexuelle Beziehungen. Glauben wir, dass die Musik tatsächlich das Verhalten eines Menschen soweit beeinflusst, dass er antisoziale Taten verübt? Doch selbst wenn das Anhören eines gewaltverherrlichenden Liedes nicht gleich dazu führt, dass jemand selbst gewalttätig wird, so wird ein Mensch doch von der Summe seiner Erfahrungen beeinflusst, und diese ethischen »Sollposten« neigen dazu, rasch zu akkumulieren.
Tradition Die jüdische Tradition sensibilisiert uns für Dinge, die unseren normalen Sinn für Scham oder Ekel unterhöhlen könnten. Praktisch verfügen wir alle über antisoziale Impulse, die wir teilweise aufgrund sozialer Sanktionen – etwa Gefängnisstrafen für Gewaltdelikte – blockieren, vor allem aber aufgrund unseres angeborenen Sinns für Anstand und Scham. Doch dieser Sinn kann sich abnutzen, wenn Menschen gegen gewisse Erfahrungen unempfindlich gemacht werden, bis ihnen diese Erfahrung nicht mehr seltsam oder ekelhaft vorkommt.
Die Tora verbietet es, Insekten zu essen. Sie sagt: »Jedes Kleintier, das sich auf dem Boden bewegt, ist abscheulich und darf nicht gegessen werden ... Macht euch nicht selbst abscheulich mit all diesem Gewimmel von Kleintieren, und macht euch durch sie nicht unrein, indem ihr euch durch sie verunreinigen lasst« (3. Buch Moses 11,41–43). Aufgrund der Formulierung dieses Verbots hat unsere Überlieferung es auf alles übertragen, was ein Mensch von Natur aus als ekelhaft und widerlich empfindet. Der Talmud lehrt: »Sünde stumpft das Herz ab, denn es steht geschrieben: Und macht euch durch sie nicht unrein, indem ihr euch durch sie verunreinigen lasst.« Lies nicht venitmeitem (verunreinigt werden), sondern venitamtem (abgestumpft werden – offensichtlich aus der gleichen Wurzel abgeleitet). Wenn wir gegen unseren natürlichen Sinn für Anstand handeln, geht die Tendenz dahin, dass die menschliche Sensibilität insgesamt abgestumpft wird.
Liebe Was ist mit Liebesliedern? Hier finden wir eine ähnlich ambivalente Einstellung, wie die, die wir beim Thema Sport diskutiert haben. Auf der einen Seite ist der Wert dieser Lieder sicherlich unbestritten. Die Heilige Schrift selbst enthält ein höchst kunstvolles Liebesgedicht: das Hohelied. Obwohl die Liebesgeschichte des Hohelieds eine Allegorie der Liebe zwischen Gott und dem Volk Israel ist, beweist allein die Tatsache, dass ein Liebeslied als passendes Medium für eine solche Allegorie angesehen wurde, seinen inhärenten Wert.
Doch wir lesen auch die Warnung von Maimonides, vom Hohelied Abstand zu halten, denn es bestehe die Gefahr, dass sich ein Mensch durch die Lektüre an Unanständigkeit gewöhnt. Und Rav Ovadiah von Bartenura meinte geringschätzig, diese Art Literatur sei reine Zeitverschwendung. Das, was wir über Sport gesagt haben, gilt auch hier: Die innere Einstellung und das Ausmaß legen den Unterschied fest. Wenn ein Mann ein Liebeslied für seine geliebte Ehefrau oder eine Frau für ihren geliebten Ehemann schreibt oder singt, ist das wahrlich erhaben. Oft aber ist die Art der »Liebe«, die in solchen Liedern gefeiert wird, eine Liebe zum Liebeserlebnis um seiner selbst willen. Das Judentum erkennt die Bedeutung der Liebe an, auch der romantischen Liebe zwischen Eheleuten. Doch die jüdische Liebe ist ein Sport mit Teilnehmern, kein Sport bloß für Zuschauer.
Realität Wir leben in einer äußerst voyeuristischen Gesellschaft. »Reality Shows« sind lediglich die Spitze des Eisberges. Die Obsession zuzuschauen, was andere Menschen treiben, statt uns in unserer eigenen sozialen oder geistigen Realität zu engagieren, ist allgegenwärtig. Sogar innerhalb unseres eigenen Lebens werden wir oft zu Zuschauern unserer eigenen privaten Reality Show. Das Judentum aber, mit seiner Betonung auf der direkten, praktischen Erfahrung, die Gebote zu befolgen, ist ganz darauf ausgerichtet, uns mit der Welt zu verbinden, damit die Erfahrung sich mit Sinn füllt.
Der Autor ist wissenschaftlicher Direktor des Business Ethics Center of Jerusalem.
www.besr.org