Als ich letzten Schabbat zur Synagoge ging, bemerkte ich ein 50-Rappenstück am Boden. 50 Rappen sind zurzeit etwa 45 Cent wert. Ich bin nicht arm, aber wenn ich eine Münze am Boden sehe, hebe ich sie immer auf, sogar, wenn es nur fünf Rappen sind.
Am Schabbat geht das natürlich nicht. Es ist verboten, Gegenstände zu tragen. Ich dachte kurz nach. Theoretisch könnte ich bis Schabbatausgang auf dieser Münze stehen bleiben. Das würde etwa 13 Stunden bedeuten. Ich war mir uneins. Wegen 50 Rappen einen halben Tag regungslos auf einer Münze stehen? Ich dachte an meine Frau und die Kinder. Schließlich an den Kiddusch. Dann ging ich weiter.
In der Synagoge wollten mir die 50 Rappen nicht aus dem Sinn gehen. Ich fand das lächerlich. Wenn gerade jetzt Moschiach käme und jeden Einzelnen fragen würde, woran er gerade denke, dann müsste ich – der Wahrheit halber – sagen: »Ich überlege, ob die 50 Rappen wohl noch auf der Straße liegen.«
Ich griff mir an den Kopf und versuchte, den Gottesdienst aktiv mitzumachen. Doch leider klappt das nie. Die anderen Beter – so stelle ich mir das immer vor – denken an Gott und seine Wundertaten. Ich hingegen träume. Zum Beispiel, wie viele Meter eine WC-Rolle misst oder was ein Rabbiner macht, wenn er in der Synagoge Durchfall hat. Ist es gescheit, wenn er alle zehn Minuten auf die Toilette eilt, oder sollte er nach Hause gehen?
Eigentlich habe ich noch nie einen Rabbiner gesehen, der den Gottesdienst verlässt. Meinen Rabbiner habe ich noch nie auf der Toilette gesehen. Schade. Ich würde nämlich gerne wissen, ob man auf der Toilette »Schabbat Schalom« sagen darf. Eine gute Frage. Die besten Fragen werden leider nie gestellt.
geheimnisse Ich bitte meinen Rabbiner nur einmal im Jahr um seinen Rat. Damit er weiß, dass es mich noch gibt. Es ist immer die gleiche Frage: »Beim Abwaschen ist mir der fleischige Schwamm in den milchigen Topf gefallen. Was mache ich jetzt?« Der Rabbiner fragt dann immer zurück: »Wie heiß war der Schwamm?«, und ich antworte stets: »Normal«. Der Rabbiner denkt eine Sekunde nach und entscheidet: »Kaufen Sie sich einen neuen Schwamm!«
So geht das nun schon seit Jahren. Im Grunde genommen müsste ich den Rabbiner häufiger aufsuchen. Das Malheur mit dem Schwamm ist nämlich nur die Spitze des Eisberges. Wenn ich in der Küche bin, passieren sehr viele halachische Probleme. Die meisten haben ihre Ursache mit der Geschirrspülmaschine. Wir benutzen sie nur für milchiges Geschirr.
Leider bin ich etwas schusselig und stecke immer zwei, drei fleischige Teller mit rein. Davon weiß außer mir und Gott keiner was. Was soll ich auch machen? Der Rabbi würde sagen: »Neue Geschirrspülmaschine« und meine Frau: »Verdammt nochmal!«
Ich denke, in einer Partnerschaft muss es auch Raum geben für Geheimnisse. Zum Beispiel, dass ich auf dem Nachhauseweg die 50 Rappen in meine Manteltaschen gesteckt habe.