Für den israelischen Musikwissenschaftler und Chorleiter Uri (Uriel) Aharon hat sich ein Kreis geschlossen. Im Haus seiner Eltern, die aus Frankfurt am Main kamen, lernte er schon als Kind den »jeckischen« Brauch kennen, Psalm 126 (»Schir Hamaalot« – ein Wallfahrtslied) vor dem Tischgebet an jedem Schabbat und an jedem Feiertag zu singen, und zwar mit bestimmten Melodien, die regelgemäß wechselten.
NOTENSCHRIFT Dieser sorgfältig eingehaltene Minhag sagte dem jungen Aharon nicht sonderlich zu, er kam ihm altmodisch vor. Erst Jahrzehnte später begann er, die verschiedenen Schir-Hamaalot-Melodien zu schätzen und zu sammeln. Insgesamt 71 Melodien hat Aharon in seiner jetzt veröffentlichten Anthologie in Notenschrift festgehalten, damit sie nicht in Vergessenheit geraten.
Für die, die nicht nach Noten singen können, hat der kurz vor der Drucklegung des Buches verstorbene Pianist und Sänger Elijahu Zabaly die 71 Melodien aufgenommen; wer daran interessiert ist, kann seine Interpretationen im Internet hören (www.uriaharon.co.il). Zabaly sang den Psalm stets in der heute in Israel üblichen sefardischen Aussprache. Um zu demonstrieren, wie die früher verwendete aschkenasische Aussprache klingt, hat man Kantor Schmuel Berlad eine einzige Melodie mit der Aussprache der alten Jeckes singen lassen.
Wie Aharon in seiner instruktiven Einleitung bemerkt, wurden viele Melodien von der nichtjüdischen Umgebung in Aschkenas übernommen und bei diesem Aneignungsprozess mitunter nicht unwesentlich modifiziert. Unter Aschkenas ist übrigens nicht nur Deutschland zu verstehen, sondern auch Elsass-Lothringen, Belgien, die Niederlande, Dänemark und England.
JABABIMBAM In die Sammlung hat der Autor sowohl ernste als auch fröhliche Melodien aufgenommen. Sogar einen chassidischen Niggun (mit »jababimbam«) findet man in der vorliegenden Anthologie; diese Singweise haben Jeckes wohl von Ostjuden übernommen.
Die Musikstücke hat der Verfasser nach dem Zeitpunkt ihrer Verwendung geordnet und nummeriert. Zuerst stehen Melodien für die diversen Feiertage. An Chanukka zum Beispiel kann man zwischen vier Melodien wählen; die bekannteste ist die von »Maos Zur«. Die meisten im Buch aufgezeichneten Melodien sind an einem gewöhnlichen Schabbat zu singen – da hat eine musikalische Tischgesellschaft eine wahrlich große Auswahl! Feinschmecker schätzen nicht nur kulinarische Abwechslung, sondern auch eine musikalische.
Der Beginn von Psalm 126 lautet: »Wenn der Ewige die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden./ (…) Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten./ Sie gehen hin und weinen und tragen guten Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.« Das Singen von Psalm 126 und von einigen Schabbat-Liedern dient nicht nur zur Hebung der guten Stimmung.
Wie Aharon bemerkt, hilft Schir Hamaalot am Ende der Mahlzeit – geistreiche Frankfurter Juden witzelten: »schier (= bald) ist das Mahl aus« – bei der Erfüllung einer halachischen Pflicht. Eine Mischna (Sprüche der Väter 3,4) legt nämlich fest, dass drei, die an einem Tisch gegessen haben, bei dieser Gelegenheit Worte der Tora sprechen sollen.
TISCHGEBET Zwar steht im Kommentar von Rabbi Ovadia Bartenura zu dieser Mischna, dass jeder mit dem Beten des Tischsegens diese Pflicht erfüllen kann, aber verschiedene Halachisten haben dieser Auffassung widersprochen: Es empfiehlt sich daher, einen Psalm vor dem Tischgebet aufzusagen.
Da in der erwähnten Mischna weder von Schabbat noch von Feiertagen die Rede ist, können wir den Schluss ziehen, dass man auch an jedem Wochentag bei Tisch Worte der Tora sprechen soll. In der Tat, aus der Literatur ist uns der Minhag bekannt, an Wochentagen vor dem Tischgebet Psalm 137 zu rezitieren.
ZION Warum gerade dieses Kapitel? Der Verfasser meint, Psalm 137 sei ausgewählt worden, um Zions zu gedenken (was ebenfalls auf Psalm 126 zutrifft). Allerdings wird dieser Minhag in unserer Zeit kaum mehr praktiziert. Wie erfüllen wir an Wochentagen die in der Mischna genannte Pflicht? Wir verlassen uns auf Bartenuras Ansicht, das Aufsagen des Tischsegens reiche aus; auch in diesem Text erwähnen wir die aufzubauende Stadt Jerusalem!
Das Buch von Uriel Aharon ist zweisprachig (Hebräisch und Englisch) und hat dementsprechend zwei Umschlagseiten. Auf beiden ist ein Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim abgebildet: »Sedernacht« und »Segnen der Kinder am Schabbatabend«. Bei beiden Gelegenheiten wird man nachher »Schir Hamaalot« singen.
Uri (Uriel) Aharon: »Maalot Hashir. An anthology of seventy-one melodies for Shir Hamaalot«. Bilingual edition English – Hebrew. Rubin Mass Publishers, Jerusalem 2020, 174 & 36 S., 30 $