Im Talmud (Megilla 32a) wird derjenige, der »die Schrift ohne Melodie liest und ohne Sang studiert«, als jemand eingeschätzt, der die Werte und Satzungen der Tora nicht besonders würdigt. So ist es also gute Tradition, dass gläubige Juden die Worte der Heiligen Schrift mit einer besonderen Tonfolge vortragen.
Obwohl eigentlich von einer Toralesung die Rede ist, wenn in der Synagoge aus den fünf Büchern Mose am Schabbat und an den Feiertagen – und übrigens auch montags und donnerstags – vorgetragen wird, so ist es doch eher ein gesungener Toravortrag. Es handelt sich um einen Sprechgesang, eine Kantillation.
Diese Kantillation sieht eine bestimmte Tonabfolge vor. Dabei sind 28 verschiedene Tonkombinationen als Zeichen vorgegeben, die Trop oder Te’amim genannt werden. Sie stehen meist direkt über der betonten Silbe. Das jiddische Wort Trop steht für Melodie, das hebräische Wort »Ta’am« (Plural: »Te’amim«) für Bedeutung.
SINAI Woher kommt diese Tradition? Bereits Mosche soll mit der Tora die Kantillationszeichen am Berg Sinai empfangen und entsprechend auch dem Volk die heiligen Worte vorgetragen haben. So wurde die Schrift von Generation zu Generation mündlich weitergegeben.
Im Talmud gibt es verschiedene Erwähnungen dieser Art des Vortrags und der Überlieferung. Doch erst Ende des 9. Jahrhunderts der modernen Zeitrechnung soll die Melodie mit bestimmten Schriftzeichen versehen worden sein, etwa zur gleichen Zeit, in der auch die Vokalzeichen der Schrift hinzugefügt wurden. Schriftgelehrte der Familien ben Ascher und ben Naftali im israelischen Tiberias, darunter der bekannte Rabbi Aaron ben Moses ben Ascher, sollen dafür verantwortlich gewesen sein.
MUSIKKULTUR Jascha Nemtsov, Professor für Musikwissenschaft und Geschichte der jüdischen Musik in Weimar, schreibt auf der Webseite des Deutschen Musikinformationszentrums, dass das rituelle Vortragen der Hebräischen Bibel den ältesten Teil der jüdischen Musikkultur bildet.
Dieses sei durch ein System von strengen musikalischen Regeln und genau festgelegten Motiven (Kantillationen) organisiert: »Dieses System ist in wesentlichen Zügen in der biblischen Zeit entstanden, es wurde dann einige Jahrhunderte lang mündlich überliefert und im 9. Jahrhundert mit neumenähnlichen Zeichen (Te’amim) kodifiziert.«
Ursprünglich, und auch heute noch so üblich, waren die hebräischen Buchstaben ohne Vokalzeichen niedergeschrieben. So würden beispielsweise die ersten Wörter in der Torarolle, ins Deutsche übertragen, so aussehen: »M NFNG SCHF«. Dass es »Am Anfang schuf« heißt, ist vielleicht noch zu erkennen. Doch mitten im Text kommen dann schon bald die Fragen: Wo fängt der Satz eigentlich an, wo hört er auf, welche Bedeutung hat er überhaupt? Denn auch Satzzeichen gibt es in der Torarolle nicht.
Es gibt 28 verschiedene Tonkombinationen – genannt Trop oder Te’amim.
Hier helfen nun die Trop oder Te’amim, die 28 verschiedenen Zeichen der Tonkombinationen. Diese ermöglichen es nicht nur, den Text besser lernen und sich einprägen zu können. Sie lassen auch den Vortrag der Tora schöner und würdiger klingen. Zudem ist der Gesang besser in der Synagoge oder anderswo in der Öffentlichkeit zu vernehmen als das gesprochene Wort. Und die Zeichen versehen den Text mit besonderen Betonungen und Pausen.
Einmal abgesehen von Zeichen wie »Sof Pasuk«, das einen Satz wie mit einem Punkt beendet, oder »Etnachta«, das einen Satz wie mit einem Komma trennt, gibt es auch Sonderzeichen, die ganz besonders aufhorchen lassen. Da ist beispielsweise »Schalschelet«, das einen dreimal wiederholten Singsang anzeigt. Dieses Zeichen kommt insgesamt nur viermal in der ganzen Tora vor, dreimal im ersten Buch (Bereschit), einmal im dritten Buch Mose (Wajikra).
SINGSANG Es symbolisiert in dem Singsang eine gewisse Unentschlossenheit, einen inneren Konflikt, erklärt der ehemalige britische Oberrabbiner Jonathan Sacks sel. A. am Beispiel des Schalschelet-Zeichens im 1. Buch Mose (39,8). Dort geht es um Josef, der von seinen Brüdern als Sklave verkauft wurde und im Haus des Ägypters Potifar arbeiten musste. Allein mit ihm, entdeckte die Hausherrin die Schönheit Josefs und begehrte ihn. Er verweigerte sich ihr.
Und genau an dieser Stelle erscheint das Schalschelet-Zeichen auf dem Wort. Denn offensichtlich fühlte sich Josef hin- und hergerissen zwischen der Verlockung der körperlichen Liebe und seinem Anstand, zwischen seiner jüdischen Identität und der ägyptischen Umgebung. Der Vorleser macht diesen inneren Konflikt mit der Betonung des Gesangs durch das Zeichen »Schalschelet« deutlich hörbar.
HÄUFIGKEIT Doch die Trop oder Te’amim lassen sich nicht nur in der Häufigkeit ihres Erscheinens in der Tora und anderen biblischen Schriften unterscheiden, wie eben beschrieben vom sehr seltenen »Schalschelet« bis zum »Tipcha«, das insgesamt 35.980-mal in der Tora und den anderen Büchern (wie etwa den Propheten) vorkommt.
Vielmehr sind sie auch in ihrer Bedeutung und Aufgabe zu nennen, unterteilt in »Te’amim Mafsikim«, also den Satz unterteilende Zeichen, und in »Te’amim Mechabrim/Meshartim«, Worte und Satzteile verbindende Zeichen. Auch zuerst genannte Zeichen (Mafsikim) sind nochmals in vier Kategorien (Kesarim, Melachim, Mischnim, Schalischim) unterteilt.
Diese Angaben und viele andere Hintergründe und Beispiele der praktischen Anwendung hat Joshua R. Jacobson, Professor für Musik an der Northeastern University/USA, in seinem Buch Chanting the Hebrew Bible zusammengestellt. Dort schreibt er unter anderem über die »Art of Cantillation«: Kantillation ist Geschichtenerzählen, und ihre erfahrensten Praktiker sind großartige Geschichtenerzähler.
Natürlich ist es nicht irgendeine Geschichte, die sie erzählen – es ist eine der ältesten und meistgelesenen Geschichten auf dem Planeten. »Cantillation« ist im Wesentlichen ein Mittel, um diese heilige Geschichte mit überzeugendem rhetorischen Ausdruck und stimmlicher Schönheit zu vermitteln.
BARMIZWA Das Studium dieser Kantillation ist nicht einfach. Jeder Barmizwa-Junge hat sich damit schon einmal herumplagen müssen, wenn er zum ersten Mal zur Tora aufgerufen wird und ein kleines Stück des Textes vortragen soll. Die Herausforderung wird noch größer, wenn auch die Haftara gelesen wird, also der jeweils zum Toraabschnitt passende Text aus einem Prophetenbuch.
Dieser wird zwar mit den gleichen Trop oder Te’amim gelesen, die aber bei der Haftara überwiegend anders betont sind. Auch gibt es noch unterschiedliche sefardische und aschkenasische, zum Teil sogar regional unterschiedliche Traditionen, die es meist nur einem ausgebildeten Vorbeter und Vorleser (Baal Kore) möglich machen, den heiligen Text mit der richtigen Melodie und Betonung vorzutragen. Keine leichte Aufgabe.
Das Zeichen »Schalschelet« kommt nur viermal in der ganzen Tora vor.
Aber eine, in die man sich vertiefen kann – so wie der Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, Zsolt Balla. Er ist am Institut für Traditionelle Jüdische Liturgie des Rabbinerseminars zu Berlin tätig, an dem Baalei Koreh und Chasanim ausgebildet werden. Zudem ist Rabbiner Balla auch Doktorand an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sein Thema dort: »Beyond the Determination of Syntax – the Non-Syntactic Role of the Accents in Traditionalist Biblical Exegesis«.
Er konzentriert sich darauf, wie die rabbinische Literatur nach dem 15. Jahrhundert die Akzente als Mittel zur Verbindung des Textes mit der klassischen rabbinischen Literatur und der mündlichen Tora nutzte, und wie die Akzente bei der eigentlichen interpretierenden Lesung der biblischen Texte eine Rolle spielen.
Vorgetragen werden sollte der Text möglichst von einer Person, die laut Joseph Karo im 1567 veröffentlichten Schulchan Aruch ein Talent für Melodie hat, »deren Stimme angenehm ist und die in der Lage ist, die gesamte Bibel zu singen«.
Zum Schluss sei nochmals Joshua R. Jacobson zitiert. Er meint, dass jeder, »der die Bibel singt«, die semantische Bedeutung, die syntaktische Struktur und die akribisch korrekte Aussprache des Textes im Bewusstsein haben sollte.
»Die Musik sollte eine Verbesserung sein, kein Ziel; ein Mittel, kein Zweck«, schreibt er in Chanting the Hebrew Bible. Um eine alte Tradition am Leben zu erhalten, sollte man die Grundlagen dieser Tradition verstehen, nicht nur ihre Besonderheiten, so Jacobson: »Jeder, der lernt, wie man die hebräische Bibel singt, sollte mehr als nur die richtigen Melodien lernen.« Zu diesem Zweck wird der Leser aufgefordert, die Beziehung der melodischen Motive zu den heiligen Texten, mit denen sie verbunden sind, sorgfältig zu untersuchen.