Urteile

Die Mehrheit bestimmt

In der Knesset und anderen demokratischen Parlamenten haben die Abgeordneten das Sagen. Foto: Flash 90

Am Anfang unserer Toralektüre lesen wir: »Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir weder verborgen noch zu ferne, noch im Himmel, dass du sagen könntest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen könntest: Wer will uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Sondern diese Mizwa liegt dir sehr nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen, sodass du dich danach richten kannst« (5. Buch Moses 30, 11-14).

Einige Gelehrte grübelten darüber nach, um welches Gebot, welche Verpflichtung der Tora es sich hier handeln könnte, die so leicht und natürlich nahe am Herzen liegt? Der Rambam, Maimonides (1138–1204), der rational denkende Meister des Mittelalters, meinte, dass hier von der Teschuwa, der reuevollen Rückkehr zu G’tt, die Rede sei. Dass diese zu »erfüllen«, »in unserer Nähe und unserer Reichweite« liegt.

teschuwa Ovadja Sforno (1475–1550), ein Meister aus Italien, ergänzt hierzu: Die Teschuwa zu bewältigen, sei nicht so schwer, dass man dazu die Hilfe der Propheten benötigen würde. Die Teschuwa kann niemandem so fern sein, dass man deshalb der Hilfe von weisen Männern in eurer Generation bedarf, die erläutern, wie ihr dies angehen müsstet. Und der Gelehrte fügt zum Schluss hinzu: »Selbst wenn du noch im Exil lebst, selbst dort, fern vom jüdischen Land, müsste diese wichtige Aufgabe zu bewältigen sein. Niemand von uns kann sich in Ausreden flüchten.«

Der vorhin zitierte Vers aus Dewarim, dem 5. Buch Moses, enthält einen wesentlichen Teil des Selbstverständnisses der Schrift: »Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen, noch zu fern, noch im Himmel« (30,11). Damit wollte Mosche betonen, dass die Gebote der Tora nicht unerfüllbar sind. G’tt verlangt von uns nichts, was wir nicht vollbringen könnten. Des Weiteren sagte Mosche, dass diese Gebote keine entfernten himmlischen Schätze seien, sondern sie sind irdisch verankert.

diskussion Häufig werden wir von Nichtjuden gefragt, ob denn die Tora »noch immer so streng« sei und uns harte, übermenschliche Forderungen stellt. Als Erwiderung möchte ich eine Diskussion zwischen den Weisen aus dem Talmud zitieren: Im Laufe der Debatte über die Halacha argumentierte Rabbi Elieser ben Hyrkanos, der im zweiten Jahrhundert lebte, so: Die Richtigkeit meiner Argumentation kann sogar dieser Johannisbrotbaum beweisen. Daraufhin, so die Überlieferung, rückte der Baum 100 Ellen weiter von seinem Standort, um die Worte von Rabbi Elieser zu bestätigen.

Danach antworteten die anderen gelehrten Diskussionspartner: In einer ernsthaften Auseinandersetzung lässt man doch nicht einen Baum den Beweis erbringen. Dann, meinte Rabbi Elieser, solle eben der Bach die Beweise liefern. Worauf alle sahen, dass das Wasser plötzlich rückwärts floss. Jedoch auch das beeindruckte seine Gegner nicht im Geringsten.

Sodann wollte Rabbi Elieser die Rechtmäßigkeit seiner Argumente durch die Wände des Lehrhauses bestätigen lassen. Ob sie wohl einstürzen würden oder nicht. Die Wände verneigten sich, stürzten aber nicht ein. Zum Schluss wandte sich Rabbi Elieser gen Himmel, um seine Argumente bestätigen zu lassen. Und, oh Wunder! Die himmlische Stimme rechtfertigte Rabbi Eliesers Haltung.

sinai Einer der Rabbinen, Rabbi Joschia, brachte seine Erwiderung mit einem Zitat ein: Die Tora ist nicht (mehr) im Himmel (5. Buch Moses 30,12). Bei der Offenbarung am Sinai ist sie uns übergeben worden! Wir müssen demnach keine himmlische Stimme befolgen. Seit dem Sinai steht in der Tora geschrieben, dass jegliche Gesetzesentscheidungen erst nach Berücksichtigung der Mehrheitsmeinung auf Erden von Menschen zu fällen sind (2. Buch Moses 23,2).

Weiter wird zu dieser Talmudstelle hinzugefügt, dass einer der Gelehrten den Propheten Elijahu, den Herold des Messias, traf und ihn fragte, ob er wisse, wie G’tt auf diese Debatte Seiner Gelehrten reagiert hat. »Gelächelt hat Er vergnügt und gesprochen: Meine Kinder haben Mich durch ihre Argumente und durch ihre Gelehrsamkeit besiegt« (Baba Metzia 59b).

Zur Gedankenwelt dieser Parascha lernen wir weiterhin im Talmud über Rabbi Elasar ben Schimon, der sagte: So wie in der ganzen Welt nach dem Mehrheitsprinzip Urteile gefällt werden, so wird auch jeder einzelne Mensch nach der Zahl seiner Taten, Handlungen und Verdienste bewertet (Kidduschin 40b).

verhalten Der volkstümliche Kommentator Raschi (1040–1105) erläutert diese Aussage wie folgt: Der Mensch soll sich so betrachten, als ob sein Verhalten das Zünglein an der Waage wäre. Als ob die Welt durch eine einzige richtige Handlung zum Guten oder Bösen geführt würde.

Die Weisen des Talmuds wollten mit dieser Einstellung an das Verantwortungsbewusstsein eines jeden Einzelnen appellieren. Sie wollten dem Einzelnen mehr Gewicht in der Welt zusprechen, indem sie behaupteten, er könne als Individuum auf die gesamte Schöpfung Einfluss nehmen, wenn er das Richtige tut und Gutes für die Mitmenschen erwirkt.

Diese Talmudstellen in Verbindung mit unserer Parascha wollen uns lehren, dass wir Juden nicht bloß jenes Wissen, das die Lehre bewahrt, zu achten haben, sondern uns vielmehr die kreative Verwendung der Lehre zu eigen machen sollen. Damit G’tt uns und auch unsere Mitmenschen mit Seinem Lächeln ermutigt.

Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

Inhalt
Im Zentrum des Wochenabschnitts Nizawim liegt der Bund des Ewigen mit dem jüdischen Volk. Diesmal sind ausdrücklich auch jene Israeliten miteinbezogen, die nicht anwesend sind: die künftigen Generationen. G’tt versichert den Israeliten, dass er sie nicht vergessen wird, doch sollen sie die Mizwot halten.
5. Buch Moses 29,9 – 30,20

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