Bedeutung

Die Macht der Wiederholung

Das erste Mal mit Torarolle: ein 13-jähriger Junge bei seiner Barmizwa Foto: Flash 90

Rituale sind Handlungen, die nach einem festen Schema ablaufen. Sie sind immer gleich: dieselben Worte, dieselben Tätigkeiten, in einer bestimmten Reihenfolge. Auch G’ttesdienste sind solche Rituale.

Rituale geben Sicherheit – man weiß genau, wie man etwas machen soll. Sie geben Halt und Orientierung, gerade auch innerhalb einer Gruppe von Menschen, in einem Volk, einer Religionsgemeinschaft, deren Angehörige die gleichen Ideale teilen. Rituale haben einen hohen Symbolcharakter. Kein Ritual ist ohne Sinn, insbesondere für denjenigen, der es ausführt.

Tradition Zu Beginn der Reformbewegung im Judentum im 19. Jahrhundert betrachtete man viele der traditionellen jüdischen Rituale als sinnentleert. Doch schon bald merkten die Reformer, wie wichtig Rituale für die Menschen sind. Man kann sie nicht einfach ersatzlos abschaffen, ohne dem Judentum etwas Essenzielles zu nehmen. Was man aber sehr wohl kann, ist, Rituale zum Teil zu verändern, wo es unser heutiges Leben erfordert.

Dennoch hatten die Reformer recht, wenn sie sagten, ein mechanisch, ohne Nachdenken durchgeführtes Ritual sei ohne Wert. Ein Ritual, das man nur deshalb durchführt, »weil es schon immer so war«, wird leicht zur automatischen Handlung. Das Entscheidende bei der Durchführung ist die Kawana, die Absicht und die innere Einstellung, mit der wir eine solche Handlung ausführen. Wenn wir ein Gebet nur eben rasch herunterlesen, weil jetzt gerade die Zeit dafür gekommen ist, während wir mit unseren Gedanken ganz woanders sind, dann ist ein solches Gebet wertlos – eigentlich ist es sogar eine Beleidigung für den Ewigen.

Wer je die spirituelle Kraft erfahren hat, die in einem gemeinsamen Gebet enthalten ist, der weiß um die große Kraft, die von einem solchen gemeinsamen G’ttesdienst ausgeht – und genauso auch von den Ritualen unseres jüdischen Lebens, wie zum Beispiel einer Brit Mila, einer Bar- oder Batmizwafeier, einer Hochzeit unter der Chuppa; und auch – chas ve-chalila – einer Trauerfeier.

Missbrauch Rituale beinhalten eine gewaltige Kraft, im positiven Sinn – und auch im negativen, wenn man aus böser Absicht ein solches Ritual missbraucht, weil man einem anderen damit Schaden zufügen will. Von einem solchen Vorgang lesen wir in unserem Wochenabschnitt: Balak, der König von Moaw, sieht die Israeliten aus der Wüste heraufziehen, und ihm graut davor, dass dieses Volk nun auch sein Land einnehmen könnte, so wie zuvor das Land der Emoriter. Er hat eine, wie er glaubt, unschlagbare Idee: Zauberei! Da gibt es doch den Bile’am, einen Mann, den er für einen Zauberer und Wahrsager hält. Den will Balak herbeirufen, damit er für ihn das Volk der Israeliten verfluchen soll. Ein kleines Vermögen will er ihm für seine Dienste zahlen.

Erst lehnt Bile’am Balaks »unmoralisches Angebot« ab – er sei schließlich kein Zauberer, der auf Bestellung Fluch und Segen verteilt. Zunächst hört er auch auf den Ewigen, der ihn eindringlich vor dieser Unternehmung warnt. Aber nach einigem Hin und Her macht sich Bile’am dann doch auf den Weg zum König. Es ist ein Weg mit allen möglichen und unmöglichen Hindernissen, einschließlich eines sprechenden Esels.

hintergedanken
Und Bile’am reist vermutlich nicht ohne Hintergedanken. Wohl hat ihm der Ewige übermittelt, er werde am Ende nur das sagen können, was Er, der Ewige, ihm auftragen werde. Aber Bile’am lockt die Belohnung, die ihm Balak versprochen hat. Und insgeheim mag er wohl bei sich denken, er könne vielleicht doch beides haben: den Segen des Ewigen und das Geld des Balak.

Und tatsächlich beginnt Bile’am auf Geheiß des Königs Balak mit den Vorbereitungen für dessen Fluchritual: Sieben Altäre werden errichtet, man bringt sieben Stiere und sieben Widder als Opfertiere. Doch als es dann zum gewünschten Orakelspruch kommt, spricht Bile’am – durch Einwirkung des Ewigen – nicht Worte des Fluches, sondern Worte des Segens.

Balak ist höchst verärgert, aber er gibt nicht auf. An einem anderen Ort wiederholen sie das Ritual. Ein großartiges Opfer nach dem anderen bieten sie auf, Bile’am und der König, aber jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis: Segen statt Fluch. Hätte es doch Balak wenigstens jetzt eingesehen; aber nein, nun will er es erzwingen. Ein drittes Mal vollzieht Bile’am sein Ritual – aber nicht immer sind aller guten Dinge drei: Diesmal geht es richtig übel für Balak aus. Denn nicht nur wiederholt und verstärkt Bile’am seinen Segen für Israel, sondern es ergibt sich daraus auch ein mächtiger Fluch gegen Balak: »Wer dich (Israel) je segnet, der sei gesegnet. Und wer dir flucht, der sei verflucht!«

Treue Der Ewige ist Seinem Volk Israel unwandelbar treu. Er ist nicht bestechlich, im Gegensatz zu Bile’am. Der König tobt und beschimpft Bile’am – der geht davon und lässt Balak stehen, übrigens ohne große Gewissensbisse. Schließlich ist doch Balak selbst schuld, oder? Später, zu einem anderen Zeitpunkt, wird Bile’am allerdings sein Schicksal ereilen, ebenso wie König Balak, denn der Ewige lässt sich nicht verspotten. Bile’am hat am weiteren Verlauf der Geschichte Mitschuld getragen, auch wenn er seiner eigenen Meinung nach ja nur »Befehlsempfänger« war.

Rituale besitzen eine große Kraft. Aber täuschen wir uns nicht: Erzwingen können wir mit ihnen nichts, schon gar nicht die Erfüllung unserer Wünsche durch den Ewigen. Bitten dürfen – und sollen – wir Ihn allezeit darum; aber die Entscheidung liegt bei Ihm, und das ist auch gut so: Nicht alle unsere Wünsche sind sinnvoll, und manche sind sogar gefährlich, für andere, aber auch für uns selbst, auch wenn wir das im Voraus nicht ahnen.

Bitten wir also den Ewigen darum, dass Er unsere Herzenswünsche erfüllen möge – zum Guten, zum Frieden und zum Segen –, und nehmen wir Seine Entscheidung vertrauensvoll an, denn: Wir können in unserem Leben nicht besser geführt werden als vom Ewigen, gelobt sei Er.

Die Autorin ist Rabbinerin der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Balak hat seinen Namen von dem moabitischen König. Dieser fürchtet die Israeliten und beauftragt den Propheten Bile’am, das Volk Israel zu verfluchen. Doch Bile’am segnet es und prophezeit, dass dessen Feinde fallen werden.
4. Buch Mose 22,2 – 25,9

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