Das Studium der Tora hat die Weisen derart begeistert, dass sie sich Bilder entliehen, die zwar aus dem Tanach stammten, aber den Bereich der Erotik streifen. Sie betrachteten etwa diesen Text aus Mischle, dem Buch der Sprüche: »Eine liebevolle Hirschkuh, eine anmutige Bergziege (Hebräisch: Ja’aleh). Lass dich von ihren Brüsten jederzeit befriedigen; sei stets betört von der Liebe zu ihr« (5,19).
Der Talmud (Eruwin 54b) berichtet von der Deutung der Weisen: »Eine anmutige Bergziege – das bedeutet, dass die Tora denjenigen, die sie studieren, Lieblichkeit gewährt. Lass dich von ihren Brüsten jederzeit befriedigen!«
SÄUGLING Dann fragt der Talmud: »Warum werden die Dinge der Tora mit Brüsten verglichen?« Die Antwort: »So wie ein Säugling, der an der Brust nach Milch sucht (…), darin Milch findet, so ist es auch mit den Angelegenheiten der Tora. Wann immer ein Mensch über sie nachdenkt, findet er eine neue Bedeutung in ihnen.«
Liest man den Text aufmerksam, wird man den Teil mit dem Säugling leicht nachvollziehen können, aber die Erklärung für die Bergziege erscheint uns nicht nachvollziehbar. Jedenfalls aus heutiger Sicht nicht mehr. Den Weisen jedoch scheint diese Verbindung plausibel gewesen zu sein. Liegt es am Geschick der Bergziege, sich im Gebirge anmutig bewegen zu können? Verleiht ihr das die »Lieblichkeit«?
Diese Frage stellt sich auch vor dem Hintergrund einer Geschichte aus dem Traktat Bawa Batra (16ab), der die Bergziege in einem vollkommen anderen Licht erscheinen lässt. Dort wird über Hiob 39,1 diskutiert: »Kennst du die Geburtszeit der Bergziege, beobachtest du das Kreißen der Hirschkühe?«
Der Talmud fährt fort: »Die Bergziege ist ihren Jungen gegenüber grausam, und wenn sie sich zum Werfen (ihrer Jungen) niederkauern muss, so steigt sie auf eine Bergspitze, damit das Junge herabfalle und umkomme. Ich aber halte ihr einen Adler bereit, der es mit seinen Flügeln auffängt und es vor sie hinlegt. Würde er aber einen Augenblick zu früh oder einen Augenblick zu spät kommen, so würde es umkommen.«
Raschi kommentierte mit diesen Worten aus dem Talmud auch den Vers aus dem Buch Hiob. Von Zuwendung oder Lieblichkeit finden wir hier wenig. Die Zuwendung finden wir eher im Adler, der zum idealen Zeitpunkt erscheint. Oder gilt die Bergziege als angenehm, weil ihre Hörner einen besonderen Beitrag zum jüdischen Jahr leisten?
HÖRNER Aus ihren Hörnern kann man ein Schofar herstellen, und das wurde zur Zeit des Tempels auch getan. Im Talmudtraktat Rosch Haschana (26a) wird beschrieben, wie ein Schofar beschaffen sein muss, damit es an Rosch Haschana zum Einsatz kommen kann. Die beiden Trompeten, die den Klang des Schofars im Tempel begleiteten, sollten aus Silber gefertigt werden – und das Schofar aus dem Horn eines Widders, einer Ziege, einer Bergziege, einer Antilope oder einer Gazelle.
Weiter wird dann im Talmud darüber gestritten, welche Hörner denn zu bevorzugen seien – gebogene oder gerade? Die Form des Schofars beschreibe die innere Haltung an diesem Tag.
In Rosch Haschana 26b heißt es dementsprechend: »Worin besteht der Streit? – Einer ist der Ansicht, am Neujahrsfest sei es, je mehr man das Gemüt beugt, desto besser, und am Versöhnungstag dagegen sei es, je gerader das Gemüt ist, desto besser. Und der andere ist der Ansicht, am Neujahrsfeste sei es, je gerader das Gemüt ist, desto besser, und am Versöhnungstag dagegen sei es, je mehr man das Gemüt beugt, desto besser.«
Möglicherweise ist mit einem »gebeugtes Gemüt« die Lieblichkeit gemeint, von der hier die Rede war: Das Studium der Tora führt zu einem »gebeugten Gemüt«, jedenfalls bei denen, die das Gelernte ernst nehmen. Vielleicht ist ja dies die Lehre der Bergziege.