Unser Wochenabschnitt schließt mit dem »Zizit«-Gebot: »Und der Ewige sprach zu Mosche: Sprich zu den Kindern Israels und sage ihnen, sie sollen sich an die Ecken ihrer Kleider Schaufäden machen (…). Sie sollen euch als Schaufäden dienen, dass, wenn ihr sie sehet, ihr an alle Gebote des Ewigen denkt und sie haltet und nicht nach dem umherspäht, was euer Herz und Auge begehrt, denen ihr sonst buhlerisch folgt, damit ihr an alle meine Gebote denkt und sie haltet und eurem G’tt heilig seid« (4. Buch Mose 15, 37–40).
Dieser Abschnitt ist der dritte Absatz im Schma-Gebet, das ein traditionsbewusster Jude jeden Tag zweimal betet. Was beabsichtigten unsere Weisen damit, dass sie diesen Abschnitt den beiden anderen im 5. Buch Mose, »Schma« – »Höre« – und »We haja im Schamoa« – »Wenn ihr gehorchet Geboten« –, hinzufügten?
Ethik »W’lo taturu achare Levavchem w’acharei Ejnechem« – »und nicht nach dem umherspäht, was euer Herz und Auge begehrt«. Wir öffnen damit eine Frage in der Torat HaMidot, die wir in der Alltagssprache Ethik nennen. Das Problem liegt in der Fragestellung: Verhält sich ein Mensch gemäß seinen ethischen Empfindungen oder seinem religiösen Glauben?
Die eine Lehre dazu ist die des großen griechischen Philosophen Sokrates (469–399 v.d.Z.), der davon ausging, dass sich die moralische Entscheidung eines Menschen seinem Verständnis der Realität in der Welt anpasst.
Die zweite Lehre sagt, der Mensch benimmt sich nicht so, wie er das Weltgeschehen versteht, sondern gemäß seinem eigenen Wesen und Pflichtgefühl. Diese Lehre vertrat Immanuel Kant (1724–1804).
Nun betrachten wir aber unsere Mizwa. Der erste Teil – »Und nicht nach dem umherspäht, was euer Herz begehrt« – ist eine klare Verneinung der Idee von Kant, der das Verhalten eines Menschen in Abhängigkeit seines Herzens, also gemäß der »moralischen Gesetze«, sieht. Der zweite Teil unserer Mizwa – »Und nicht nach dem umherspäht, was euer Auge begehrt« – ist eine Absage an die Haltung von Sokrates.
Die Begründung erfahren wir sofort im Anschluss daran: »Ich bin der Ewige, euer G’tt.« Danach ist also eindeutig: Die Einhaltung des Gebotes der Tora ist eine Sache des Glaubens und nicht der moralischen Empfindung, die davon abhängt, wie der Mensch die Welt sieht.
Sünde Raschi (1040–1105) kommentiert unseren Vers »Und nicht nach dem umherspäht, was euer Herz und Auge begehrt«, wie folgt: »Das Herz und die Augen sind die Kundschafter des Körpers und vermitteln ihm die Sünden. Das Auge sieht, und das Herz begehrt, und der Körper begeht die Sünde.«
Der bekannte zeitgenössische israelische Philosoph Avi Sagi (Jahrgang 1953) schrieb ein sehr lesenswertes hebräisches Buch, dessen Titel sich mit »Judentum zwischen Religion und Moral« (Verlag: Hakibbutz Hameuchad 1998) übersetzen lässt. In der Einleitung stellt Sagi zwei Grundfragen: Sind Ethik und Moral in der jüdischen Tradition vom religiösen Glauben abhängig? Und: Gibt es einen normativen Gegensatz zwischen den religiösen und den moralischen Pflichten?
Pflicht Diejenigen, die eine große Abhängigkeit der Moral von der Religion sehen, betonen, dass eine Tat ohne G’ttes Befehl keine moralische Tat ist. G’tt und nur G’tt definiert die moralische Pflicht. Aus dem Blickwinkel eines religiösen Juden, der nach den Gesetzen der Halacha lebt, steht ohne zu hinterfragen fest, die Gebote G’ttes zu befolgen. Nach seiner Meinung sind die moralischen Pflichten keine autonomen moralischen Werte, sondern G’ttes Gebote, die bedingungslos zu erfüllen sind, weil G’tt sie befiehlt. Und Er befiehlt sie, weil sie aus Seinen moralischen Gründen gut sind. Hierzu ein Satz von Rabbi Joschijahu Pinto: »Der Mensch sollte nicht das tun, weil seine Vernunft oder sein Kopf (Sechel) es so beurteilt, sondern weil Gott es befohlen hat.«
Der Rambam, Maimonides (1138–1204), meint, dass der ethisch handelnde Mensch das Richtige aus der Natur heraus tut und nicht, weil er G’ttes Befehl gehorcht.
Über die Mizwot, kein Blut zu vergießen, nicht zu stehlen, zu rauben und zu täuschen, schreiben unsere Weisen: »Wenn sie nicht geschrieben worden wären, müssten sie geschrieben werden« (Talmud Joma 67b). Es gebe also keinen Zweifel daran, dass eine gesunde Seele nicht nach diesen Taten strebt. Maimonides schreibt, der Mensch sei gezwungen, zu den Höhen (Maalot) zu kommen und nicht zu den Mängeln (Migraot). Die guten Eigenschaften des Menschen führten dann gerade zum Humanismus. Diese edlen Ziele könnten nur dann erreicht werden, wenn die moralische Aktivität nicht unter Zwang geschieht, sondern natürlich ist.
Auch Raw Abraham Isaak Kook (1865–1935) betont, dass moralische Taten nur aus dem Inneren, aus der natürlichen Motivation kommen und nicht erzwungen werden können durch den Gehorsam gegenüber G’tt.
Gehorsam Die Stellung der Ethik in der jüdischen Tradition kann auch eine andere Beziehung zwischen dem Menschen und G’tt zeigen. G’tt befiehlt dem Menschen zwar Gehorsam, doch der Mensch ist keine Schöpfung, die zum absoluten Gehorsam gezwungen werden kann. G’tt und der Mensch sind Partner. Beide sind zu Ethik und Moral verpflichtet.
In unseren Tagen, wo im Namen G’ttes oder im Namen von Religion viel Gewalt ausgeübt wird, ist es für alle Religionen absolut notwendig, mit den Versen der jeweiligen Quellen zu hadern und sie, wenn notwendig, neu zu interpretieren.
Der Autor ist Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover.
Paraschat Schelach Lecha
Mit G’ttes Erlaubnis sendet Mosche zwölf Männer in das Land Kanaan, um es auszukundschaften. Von jedem Stamm ist einer dabei. Zehn kehren mit einer erschreckenden Schilderung zurück: Man könne das Land niemals erobern, denn es werde von Riesen bewohnt. Lediglich Jehoschua bin Nun und Kalew ben Jefune beschreiben Kanaan positiv und erinnern daran, dass der Ewige den Israeliten helfen werde. Doch das Volk schenkt dem Bericht der Zehn mehr Glauben und ängstigt sich. Darüber wird G’tt zornig und will das Volk an Ort und Stelle auslöschen. Doch Mosche kann erwirken, dass G’ttes Strafe milder ausfällt.
4. Buch Mose 13,1 – 15,41