Die Haftara für den Wochenabschnitt Noach stammt aus dem Kapitel 54 des Buches Jeschajahu. Die Verbindung zum Wochenabschnitt Noach hängt mit einem zwei Wörter langen Verweis in der Haftara in den Versen 8 und 9 zusammen: »In der Flut der Wut habe Ich mein Antlitz für einen Augenblick vor dir verborgen, aber mit ewiger Güte werde Ich dir Gnade erweisen, spricht dein Erlöser, Haschem. Denn wie die Wasser Noachs soll es Mir ergehen: Wie Ich geschworen habe, die Wasser Noachs nie wieder über die Erde zu lassen, so habe Ich geschworen, nie über dich zu zürnen und dich zu schelten.«
Warum wird die Flut in Paraschat Noach als »die Wasser Noachs« bezeichnet? Warum wird sie nicht »die Wasser der Generation Noachs« genannt, jener Generation, die mit ihrem Fehlverhalten die Flut verursacht hat? In welchem Sinne ist sie Noachs Flut? Der Sohar tadelt Noach, weil er nicht um Gnade für seine Generation gebeten hat. Der Sohar sagt, dass die Flut nach Noachs Namen benannt wurde, weil er nicht ausreichend für das Wohl seiner Zeitgenossen gebetet hat.
Warum sollte Noach Gʼttes Urteil infrage stellen?
Man kann argumentieren, dass Noach dafür nicht verantwortlich gemacht werden sollte. Gʼtt erschien Noach und verkündete, dass die Menschen auf der Erde böse seien, dass sie zu viel sündigten und dass Er sie vernichten würde. Die Schrift geht ausführlich auf die Perversion und die Bosheit der damaligen Generation ein. Gʼtt befahl Noach, eine Arche zu bauen, um seine Familie und ausgewählte Paare jeder Tierart zu retten. Warum sollte Noach Gʼttes Urteil infrage stellen und Ihn im Gebet bitten, seine Pläne aufzugeben? Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass ein solches Gebet die gʼttliche Entschlossenheit, die schon lange andauernde Korruption der Menschen zu beenden, umgekehrt hätte.
Dies, schreibt der amerikanische Rabbiner Yissachar Frand, sei ein weiteres Beispiel für die unglaubliche Macht des Gebets. Diese Begebenheit sagt uns implizit, dass Noach die Flut tatsächlich hätte verhindern können, wenn er nur dafür gebetet hätte. Er hatte nicht genügend Vertrauen in die Kraft seiner eigenen Gebete, und deshalb kam die Flut und wurde sogar nach seinem Namen benannt, nämlich Mej Noach, als ob er selbst schuld an der Sintflut gewesen wäre.
Der Beweis, dass Noachs Gebete geholfen haben könnten, sind die Verse, die wir nach dem Ende der Sintflut lesen: »Dann baute Noach einen Altar für den Ewigen und nahm von jedem reinen Tier und jedem reinen Vogel und brachte Brandopfer auf dem Altar dar. Haschem roch den angenehmen Geruch und sagte in seinem Herzen: ›Ich werde nicht mehr die Erde wegen des Menschen verfluchen (…). Noch werde Ich wieder jedes Lebewesen erschlagen, wie ich es getan habe‹« (1. Buch Mose 8, 20−21).
Noachs Gebete werden angenommen, und Gʼtt gesteht ein, dass Noach recht hat
Noachs Gebete werden angenommen, und Gʼtt gesteht ein, dass Noach recht hat. »Nie wieder werde ich eine Flut bringen!« Wir sehen, dass das Gebet funktioniert hat. Hätte Noach vor der Flut einen solchen Altar gebaut und ein solches Gebet gesprochen, wäre es möglicherweise niemals zur Sintflut gekommen.
Im Talmud (Rosch Haschana 18a) heißt es: »Rabbi Meir sagte immer, wenn zwei Menschen an derselben Krankheit erkrankten oder zwei Kriminelle wegen desselben Verbrechens verurteilt wurden, könne es sein, dass einer gesund werde und der andere nicht, dass einer letztlich freigesprochen werde und der andere nicht. Einer werde leben, und einer werde sterben. Warum ist das so? Einer betete, und seine Gebete wurden erhört, doch der andere betete, und seine Gebete wurden nicht erhört.«
Die Gemara führt es genauer aus: Wer ein »vollständiges Gebet« sprach, wurde erhört, und derjenige, der kein »vollständiges Gebet« sprach, wurde nicht erhört.
Was ist die Definition eines »vollständigen Gebets« im Vergleich zu einem »unvollständigen Gebet«? Es ist unwahrscheinlich, dass der Unterschied in der Kavana (Absicht, Inbrunst) liegt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Gedanken eines Menschen auf dem Sterbebett davon abschweifen. Die Gemara meint nicht, dass einer von ihnen beim Beten »abwesend« war und der andere nicht.
Rav Elija Lopian (1876−1970) erklärt, dass ein »vollständiges Gebet« (Tefilla Schlema) darauf hinweist, dass die Person an die Kraft ihres Gebetes glaubte. Sie glaubte an die Kraft des Allmächtigen und an die Kraft ihrer eigenen Gebete und wurde deshalb erhört. Eine Person glaubte an die Kraft ihres Gebets, die andere Person hatte jedoch kein Vertrauen, dass ihr Gebet erhört werden würde.
Definition eines »vollständigen Gebetes«
Die Schwester des Kotzker Rebben (19. Jahrhundert) war einmal krank, und keine Medizin, kein Arzt konnte ihr helfen. Sie ging zu ihrem Bruder, dem Rebben, und bat ihn, für sie zu beten. Er sah sie an und sagte: »Ich kann nichts für dich tun«, und schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Die Schwester fing an zu weinen: »Herr des Universums, nicht einmal mein eigener Bruder wird mir helfen, jetzt kannst nur Du mir helfen!« Da öffnete der Kotzker Rebbe die Tür und sagte: »Das wollte ich hören. Nicht der Kotzker Rebbe oder die Ärzte können dir helfen, nur der Allmächtige kann es. Ich wollte dir nur diese Erkenntnis vor Augen führen und durch mein Verhalten vermitteln. Wenn du diese Erkenntnis einmal erlangt hast, wird es dir gut gehen.« Das ist die Definition eines »vollständigen Gebetes«.
Der Baal Schem Tov (1698−1760) sagt, dass Gebete »Angelegenheiten sind, die auf der Höhe der Welt stehen«, und dennoch werden sie von den Menschen leichtfertig behandelt. Oft beten wir, und unsere Gebete haben kosmische Auswirkungen, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind und denken, dass unsere Gebete unbeantwortet geblieben sind.
Sehr oft sehen wir die Ergebnisse nicht, und manchmal ist die Wirkung erst Generationen später spürbar. Wir können nicht genau nachvollziehen, wie die Gebete funktionieren, da sie, als geistige Angelegenheiten, nicht den physikalischen Gesetzen unterliegen. Doch in einem Punkt müssen wir uns stets sicher sein, nämlich dass die Gebete funktionieren und immer einen positiven Ertrag bringen, auch wenn deren Wirkung für uns nicht immer sofort zu sehen oder zu spüren ist.
Der Autor ist Gemeinderabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).
inhalt
Der Wochenabschnitt Paraschat Noach erzählt von Gʼttes Beschluss, die Erde zu überfluten. Das Wasser soll alles Leben vernichten und nur Noach verschonen. Der soll eine Arche bauen, auf die er sich mit seiner Familie und einem Paar von jeder Tierart zurückziehen kann. So erwacht nach der Flut neues Leben. Der Ewige setzt einen Regenbogen in die Wolken als Symbol seines ersten Bundes mit den Menschen. Doch die beginnen, die Stadt Babel zu erbauen, und errichten einen Turm, der bis in den Himmel reicht.
1. Buch Mose 6,9 – 11,32