Mutterschaft

Die große Leere

Nicht allein lassen: Nach einer Fehlgeburt braucht die Frau – aber auch der Mann – Unterstützung durch Freunde, Familie und Gemeinde. Foto: Thinkstock

Das furchtbare Gefühl, etwas Lebenswichtiges zu versäumen, begleitet jedes junges Paar und jede Frau, die Schwierigkeiten haben, schwanger zu werden. Dasselbe widerfährt aber auch Menschen, die sich schon über eine Schwangerschaft freuen und an die bevorstehende Geburt denken, dann jedoch eine Fehlgeburt erleiden. Das Kind, das sie sehnlichst erwartet haben, wird nie das Licht der Welt erblicken. Manchmal tritt eine einzelne Fehlgeburt ein, andere Paare trifft es sogar mehrmals.

Freunde und Familienangehörige fragen sich in solchen Fällen oft, wie es dazu kommen kann, dass ein Paar keine Kinder bekommt. Sie fragen sich, oder sie fragen das Paar, das in Ungewissheit schwebt – und schauen dabei wie durch ein Schaufenster in eine kinderlose Welt, die sie aus eigener Erfahrung nicht kennen.

Stille Eine Familie hat bereits einen neuen Kinderwagen gekauft, eine andere Familie spielt mit ihren Kleinen auf dem Spielplatz, eine dritte Familie kann das Säuglingsgeschrei nicht mehr aushalten und schickt das kleine Mädchen für einige Stunden zu den Großeltern. Die Eltern stört das Geschrei, aber bei Kinderlosen herrscht Stille. Niemals dürfen diese Menschen hören, dass jemand sie Papa oder Mama nennt.

Nach einer Fehlgeburt wird manches junge Paar von Schuldgefühlen gequält. Viele empfinden das Ereignis als persönliches Versagen oder als Versagen des Partners. »Die Gebärmutter ist nicht stark genug für eine Schwangerschaft, Samen und Ovum sind nicht gesund genug« – solche gegenseitigen Anschuldigungen hört man in diesen Fällen. Doch solche Worte sind mit großer Gefahr verbunden. Denn in Wirklichkeit müssen beide Partner einander Mut zusprechen. Gegenseitige Stütze ist vonnöten, denn sie allein führt zur Überwindung der Krise und zum Versuch einer weiteren Schwangerschaft, mit G’ttes Hilfe!

Zwischen Rachel und Jakob in der Bibel fand ein Dialog statt, der sich in den Ohren eines Dritten grauenhaft anhört. Rachel sagt zu Jakob: »Schaffe mir Kinder; wenn nicht, so sterbe ich.« Aber Jakob antwortete Rachel: »Bin ich doch nicht G’tt, der dir deines Leibes Frucht versagt hat.« (1. Buch Mose, 30, 1–2) Das Wort des Ewigen an Jakob lautete: So antwortest du jemandem, der dich plagt?

schmerzhaft Die Unfähigkeit zu gebären kann einer Frau ein Gefühl völliger Leere bereiten: Sie glaubt, den Grund für ihre Existenz zu verlieren. Bereits in der Kindheit, als sie mit Puppen spielte, sagten ihr alle, sie werde einmal eine gute Mutter sein. Als sie heranwuchs, freute sie sich darüber, dass sie gesund ist – und sich körperlich wie alle Mädchen entwickelt. Doch nun tritt das für eine Frau so wichtige Ereignis nicht ein. Wie schmerzhaft ist die Diskrepanz zwischen dem mächtigen Wunsch zu gebären und dem Zustand, zuerst schwanger zu werden und dann eine Fehlgeburt zu erleiden!

Wenn wir im Tanach lesen, finden wir zum Thema Fruchtbarkeit eine unangenehme Überraschung: Sowohl Sara als auch Rivka, Lea und Channa waren anfänglich alle unfruchtbar, bevor sie Kinder gebären konnten. Aus medizinischer, aber auch aus religiöser Sicht scheint es hier so, als ob das Nicht-Gebären von Kindern den Normalzustand darstellt – und dass wir für jede Geburt eine Feier abhalten und viele Jahre an das große Wunder denken sollen, das stattgefunden hat.

Die Welt jedoch sieht es umgekehrt und empfindet das ständige Gebären von Kindern, wie so manches, das man sich wünscht, als den Normalfall. Wenn kein Kind geboren wird, muss ein körperliches oder seelisches Problem vorliegen, wie etwa Stress oder Ähnliches. Auf der Familie lastet dann ein Makel, den das Paar glaubt, beheben zu müssen.

Gebet Genauso wie Rachel war auch Channa stark verstimmt, solange sie keine Kinder auf die Welt brachte. Sie tat ein Gelübde und sprach: »Ewiger der Heerscharen, wenn du siehest auf das Elend deiner Magd und mein gedenkest und nicht vergissest deiner Magd, und gewährest deiner Magd männlichen Samen, so will ich ihn schenken dem Ewigen für all seine Lebenstage, und ein Schermesser kommt nicht auf sein Haupt« (1. Samuel 1,11). Sie war aufgrund des Problems so innig in ihr Gebet vertieft, dass Eli, der Priester, sie ganz einfach für verrückt hielt, als er sie beim Beten sah.

Äußerlich kann man, bildlich gesprochen, Make-up auftragen, aber im Innern der Seele und innerhalb der Partnerschaft ist das Gefühl, etwas verpasst zu haben, sehr stark. Obwohl Partner einander auf verschiedene Weisen zu trösten versuchen, gibt es eigentlich keinen Trost. Elkanah, der Ehemann Channas, gab ihr beim Essen doppelte Portionen, »denn die Channa liebte er sehr, obschon der Ewige ihren Mutterschoß verschlossen hatte« (1. Samuel 1,5). Channas Ehemann fühlte den Schmerz seiner Partnerin und versuchte mit verschiedenen Mitteln, ihn zu lindern. Jakob versuchte dies durch Argumente, während Elkanah Nachgiebigkeit vorzog.

Aber was hat schließlich geholfen? Gibt es überhaupt einen Weg? In vielen Fällen schon. Dabei werden jedoch komplexe körperliche und geistige Kräfte beansprucht. Doch auch die Gemeinschaft kann auf ganz einfache Weise helfen.

Schaden Eine Gemeinschaft jedoch, die Druck ausübt, Vergleiche anstellt zwischen den »Leistungen« verschiedener Familien, die Rundheit des Bauches erfühlt und die Anzahl der Geburten zählt, eine Gemeinschaft, die ihr »Opfer« für die Familie in den Mittelpunkt stellt, ist eine Gemeinschaft, die Schaden zufügt und dazu beiträgt, dass das junge Paar sich von anderen entfernt, sich ausschließt und die Motivation zum Gebären von Kindern verliert.

Eine unterstützende Gemeinschaft hingegen kann dadurch helfen, indem sie ganz einfach schweigt. Nicht jedermann unter uns ist seelisch so veranlagt, dass er Mitmenschen zur Seite stehen kann. Es gibt Menschen, die zu empfindlich sind, andere sind zu streng. Um ein junges Paar in einer solchen Situation geistig zu unterstützen, sind höchste Sensibilität, Aufmerksamkeit und Offenheit gefordert. Vor allem jedoch bedarf es der Kunst, das richtige Wort zu finden, um nichts zu zerstören, sich nicht einzumischen, sondern die jungen Leute zu umarmen und zu ermutigen.

Ungeachtet der Schwierigkeiten soll das junge Paar Wärme erfahren, um zu verstehen, dass es mit diesem Problem nicht allein ist. Man soll mit ihm spazieren gehen, sich mit ihm unterhalten und es einladen. Damit ist allerdings keine Einladung zu einem gemeinsamen Shoppingausflug für Babyartikel für die eigenen Kinder gemeint!

Unterstützung In medizinischer Hinsicht ist es wichtig, den richtigen Arzt zu finden. In Israel gibt es ein Institut namens Puah, benannt nach jener hebräischen Hebamme in Ägypten, die den israelitischen Frauen bei der Entbindung beistand, ungeachtet des Verbots durch den Pharao. Es handelt sich bei diesem Institut um eine medizinisch-rabbinische Einrichtung, die sich auf ärztliche und moralische Unterstützung für Paare spezialisiert hat, die Schwierigkeiten haben, Kinder auf die Welt zu bringen. Sowohl Paaren, die noch kinderlos sind, als auch Paaren, bei denen Probleme nach der Geburt aufgetreten sind, wird hier geholfen.

Doch was kann man unternehmen, nachdem man alles versucht hat – und das Ersehnte doch nicht eintritt? Wenn die biologische Uhr tickt oder schon abgelaufen ist? Solche Fragen sind gerechtfertigt, sind aber Fragen der Verzweiflung. Jetzt ist höchste seelische Kraft vonnöten. Es ist allgemein bekannt, dass der Ewige diejenigen versucht, die einem Versuch widerstehen können.

Daraus erseht ihr, wie großartig ihr seid! Dennoch habt ihr es schwer. Nehmt alle Kraft zusammen, versucht es, und gebt das Versuchen nicht auf. Ignoriert die Misserfolge und wartet auf den Erfolg, mit G’ttes Hilfe. In der Zwischenzeit sollt ihr aber eurem Leben gerecht werden. Auch jemand, der bereits Kinder hat, kann nicht alle Ziele seines Lebens erfüllen, auch wenn er vielleicht vier Kinder in die Welt setzen wollte – und nicht nur eines oder zwei.

Leihmutter Zwar trifft es zu, dass ein gewisser Prozentsatz der Ehepaare trotz aller Versuche kinderlos bleibt, aber selbst solche Fälle sehen das Judentum und die Halacha als Segen an. Es ist möglich, ein Kind zu adoptieren oder in halachischer Begleitung und unter Einhaltung der halachischen Vorschriften ein Kind durch die Schwangerschaft einer Leihmutter zu bekommen. Auf diese Weise wird dafür gesorgt, dass Nutzen anstelle von Schaden entsteht.

Wenn wir unseren Blick nach vorn richten und die »Schranke der Schande« überwinden, werden wir lernen, dass Fehlgeburten oder Fruchtbarkeitsprobleme nicht nur uns widerfahren. Dieses Problem macht sehr vielen Familien zu schaffen – auch Familien, die bereits Kinder haben. Bei vielen Paaren ist eine Fehlgeburt eingetreten, manchmal sogar mehrere. Es gibt sogar Familien, in denen nach sieben oder acht Fehlgeburten mit G’ttes Hilfe ein Kind auf die Welt gekommen ist, das die Eltern sich ein Leben lang gewünscht und von dem sie nur noch zu träumen gewagt haben.

Der Prophet Jesaja hat die Situation unfruchtbarer Frauen mit der Zukunft Jerusalems verglichen, das darauf wartet, dass seine Söhne dorthin zurückkehren werden: »Jubele, Unfruchtbare, die nicht geboren, brich in Jubel aus und jauchze, die nicht gekreist! Denn zahlreicher sind die Kinder der Vermählten, spricht der Ewige.« Und wenig später heißt es: »In der Flut der Wut barg ich mein Antlitz eine Weile vor dir, aber mit ewiger Huld erbarm’ ich mich dein – spricht der Erlöser, der Ewige« (Jesaia 54, 1 und 54,8).

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund.

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