Ich war in der Schule immer ein Außenseiter. Zu Hause wurde ich von meiner Mutter und den beiden Katzen geliebt, doch in der Klasse half das alles nichts. Wenn ich heute alte Fotos von mir sehe, kann ich das immer noch nicht nachvollziehen. Ich sah doch so süß aus! Ein bisschen pummelig, gewiss, aber wer war das nicht in diesem Alter? Tja, schade.
Niemand wollte mit mir etwas zu tun haben. So ging ich in den Unterrichtspausen stets zum Schulwart, um mich mit ihm zu unterhalten. Und obwohl ich eigentlich kein schlechter Fußballspieler war, wurde ich jedes Mal als Letzter ausgewählt. Auf Klassenfahrten musste ich immer am Fenster schlafen. Auch weckten mich die Kameraden nie, wenn sie nachts zu den Mädchen schlichen.
Traumwelt Das war natürlich nicht schön. Rückblickend hat mich diese Zeit stark geprägt. Ich begann, mir Figuren auszudenken. Sie waren es, die mich trösteten, als sich nach ein paar Wochen auch der Schulwart genervt von mir zeigte. Meine Traumwelt half mir ungemein. In meiner Phantasie war ich ein lustiger Kerl, der eine ganze Tischgesellschaft aufs Köstlichste unterhält.
Ich besuchte damals das Linden-Gymnasium, das ganz in der Nähe unserer Synagoge liegt. Da in der Mittagspause eh niemand mit mir zu McDonald’s gehen wollte, suchte ich das Gotteshaus auf, setzte mich auf den Platz des Rabbiners und aß die belegten Brote, die mir meine Mutter geschmiert hatte. Ich stellte mir vor, wie alle Menschen zu mir kämen und mich um Rat fragten. Dann trank ich beglückt meine Milch aus. Manchmal ging ich zum Platz des alten Vorbeters und setzte seine alte Lesebrille auf. Angst, entdeckt zu werden, brauchte ich keine zu haben. In der Synagoge herrschte wochentags tote Hose.
Pulle Einmal vergaß ich, die belegten Brote in die Schule mitzunehmen. Hungrig ging ich in den Kidduschraum und suchte nach Essbarem. Im Kühlschrank fand ich Salzstangen und zwei Stück Kuchen. Und eine gelbe Flasche. Ich öffnete sie und schenkte mir ein Glas ein. Eierlikör! Ich war vielleicht 13 Jahre alt und hatte von Wein, Weib und Gesang wenig Ahnung. Aber dieser Eierlikör schmeckte vorzüglich! Ich nahm die Pulle unter den Arm und ging wieder zum Platz des alten Vorbeters. Dort genehmigte ich mir ein weiteres Gläschen und wandte mich an die Gemeinde: »Adon Olam, liebe Gemeinde! Heute saufen wir nur – Omejn!«
Ich trank die Flasche leer. Zum Glück war sie nicht einmal halbvoll. Ich dafür ganz. Alles drehte sich entsetzlich und ich begann zu torkeln. Soweit ich mich erinnern kann, fand ich das nicht lustig, ich glaube, ich weinte.
Am nächsten Schabbat hörte ich das Tuscheln der Männer: »Sicher hat die Putzfrau den Eierlikör getrunken«, sagten sie. Ich schwor mir, nie wieder einen Schluck davon zu nehmen. Leider hat dieses Erlebnis keinen Mann aus mir gemacht. Ich blieb der kleine Trottel. Das Leben ist hart.