Im Traktat Brachot (16b–17a) berichtet der Talmud von den kurzen persönlichen Bittgebeten der talmudischen Weisen. »Rabbi sagte: (…) Schütze uns vor dem Arroganten und vor der Arroganz (…). Mar, der Sohn von Ravina, sagte: Mein G’tt, schütze meine Zunge vor dem Bösen.«.
Im Leben frommer Juden spielt das Gebet eine zentrale Rolle. Ich benutze das deutsche Wort »Gebet«, obwohl es den hebräischen Begriff »Tefilla« nicht adäquat übersetzt. Das Wort Tefilla kommt von dem Verb »pallel« und bedeutet »richten«. Wir benutzen das reflexive Verb »lehitpallel« (beten), doch es heißt wörtlich übersetzt »sich richten«.
Wenn ein Jude betet, so evaluiert er in erster Linie das Selbst, den eigenen Willen, die eigenen Ziele und Träume.
Tefilla Heute würden wir von einer Reevaluation des Selbst sprechen. Wenn ein Jude betet, so evaluiert er in erster Linie das Selbst, den eigenen Willen, die eigenen Ziele und Träume. Im Moment dieser inneren Neubewertung entsteht ein neues Selbst: eines, das dankbarer und ruhiger ist, aber auch eines, das ab und zu versteht, dass es ohne innere Hilfe von außen, von G’tt, nicht bestehen kann. Dieses neue Selbst löst das gestrige ab und hat die Gefäße für G’ttes neuen Segen, neue Heilung, neue Wunder, aber auch neue Versuchung, in sich selbst erschaffen.
Die talmudischen Weisen installierten das Gebet anstelle der mit dem Tempel verschwundenen Tieropfer. Dadurch sollte verdeutlicht werden, dass das Gebet das Aufopfern des inneren »tierischen« Selbst zugunsten des neuen Selbst symbolisiert. Auch ist das hebräische Wort für »opfern« (lehakriv) eng verwandt mit dem Verb »annähern« (lekarev). Das Opfern des undankbaren, unruhigen, überforderten Selbst soll zur Annäherung an G’tt, die Quelle des Seins, führen.
Laut dem Judentum ist diese Annährung an G’tt kein schöner Nebeneffekt einer Strategie zur Lösung innerer Konflikte, sondern sie ist nicht weniger als der Sinn des Lebens. Das Leben gleicht einem Hürdenlauf. Neue Lebensabschnitte, unvermeidbare Schicksalsschläge und der sich verändernde Alltag sind potenzielle Hürden, die sich dem Menschen unaufhaltsam auf den Bahnen seines Lebens nähern.
Prophet »Es ist eine Zeit der Probleme für Jakow, doch aus ihr kommt die Erlösung« (Jirmejahu 30,7). Das Potenzial für die Erlösung (also der erfolgreiche Abschluss des Lebensabschnitts) ist integraler Teil des Konflikts. Dies ist die Botschaft, die aus den Worten des Propheten Jirmejahu gelesen werden kann. Die Neubewertung der Situation (Tefilla) ist der Schlüssel zum Meistern der Hürde, ja manchmal auch das eigentliche Meistern der Hürde.
Durch unsere begrenzte Natur sind wir ständig auf Barmherzigkeit von außen angewiesen.
Die gemeisterten Hürden des Lebens im Nachhinein zu erblicken, in jeder Hürde die aus ihr entstandene Annäherung an die Quelle des Seins zu bewundern, ist aus jüdischer Sicht der Lohn, der den Gerechten in der kommenden Welt zuteilwird.
Der chassidische Rabbi Nachman aus Brazlaw (1772–1810) schreibt in seinem Hauptwerk Likutey Moharan: »G’tt erschuf die Welt aus dem Wunsch heraus, seine Barmherzigkeit zu offenbaren. (…) Die gesamte Schöpfung wurde erschaffen, um seine Güte zu geben« (Tora 64).
Macht Die Welt wurde erschaffen, um G’ttes Barmherzigkeit zu offenbaren. Dies ist eine Lehre, die sich in der jüdischen Mystik bereits vor dem Chassidismus finden lässt. Durch unsere begrenzte Natur sind wir ständig auf Barmherzigkeit von außen angewiesen. Selbst die Mächtigsten und die Reichsten unter uns brauchen die Barmherzigkeit von außen, denn wir leben in einer Welt, in der Macht und Reichtum vergänglich sind.
Durch die Tefilla, die Neubewertung, werden wir uns der Vergänglichkeit unserer Macht bewusst. Gleichzeitig werden wir uns deutlich, dass wir mit G’ttes Hilfe die Fähigkeit besitzen, neue Hürden in Angriff zu nehmen. Diese Fähigkeit beruht auf der Barmherzigkeit des Ewigen, und das Resultat der Tefilla ist die Offenbarung dieser Barmherzigkeit. Laut den jüdischen Mystikern ist diese Offenbarung der eigentliche Grund für die Schöpfung des Universums.