Sederabend

Die fünfte Frage

Für Lilly war der Seder nicht eine Sekunde langweilig Foto: Getty Images

Komm endlich, Jevgenij, hör auf zu daddeln!», ruft die Mutter. Dabei sitzen auch die Eltern den ganzen Tag vor dem Computer, und zwar nicht nur wegen des Home­office. Der Sedertisch ist für drei Personen gedeckt. Sieht ziemlich leer und traurig aus, obwohl Papotschka irgendwo noch Blumen aufgetrieben hat. Jevgenij hat die Mazze besorgt, den Hering für Forschmak und Meerrettich. Die Schlange vor dem kleinen koscheren Geschäft reichte um den halben Block. Vermutlich dachten die anderen Passanten: «Hier gibt’s bestimmt Klopapier.»

Der vierte Gast am Tisch ist ein Laptop. Der Vater skypt mit seiner Tante in Moskau. «Letztes Jahr hatten wir doch diesen riesigen Seder im Gemeindezentrum», erzählt Tetja Vanessa unter Tränen. Dieses Jahr muss sie in Quarantäne bleiben in ihrer viel zu kleinen Wohnung ohne Balkon. Die beste Freundin, auch sie über 70, wurde positiv auf Corona getestet. Papa versucht, die Tante zu trösten, und auch Mama ruft ihr zu: «Du bist nicht allein, moja dorogaja!»

charosset Dann bringt die Mutter einen zweiten Laptop, um sich über «Zoom» in den Seder mit Rabbi Shapiro einzuloggen. Sie hat alles sorgfältig vorbereitet, hat nach einem Online-Rezept das Charosset angerichtet, hat die dreisprachige Haggada dreimal ausgedruckt und den Wein besorgt. Sonst kümmert sie sich wenig um die religiösen Traditionen.

In Jevgenijs Familie ist der vierte Gast am Tisch ein Laptop.

«Aber jetzt sind andere Zeiten», findet Mama, wobei sie seit Corona einfach alles mit «jetzt» begründet. «Jetzt hast du Zeit zu lesen», ermuntert sie Jevgenij immer wieder und verweist auf die Bücher von Tolstoi, Isaac Babel, Goethe, Anna Achmatova, Kafka und vielen anderen. «Eine gute Bildung ist wichtig!»

FIFA Aber Jevgenij kann sich Spannenderes vorstellen. FIFA zum Beispiel, wenigstens online, während alle Fußballstadien leer vor sich hingammeln. Noch lieber würde er mit seinen Kumpels draußen selbst Fußball spielen. Oder Billard, da spielen auch die Mädchen mit. Lilly zum Beispiel. Lilly stieß erst kürzlich über ihre Cousine zur Billard-Clique. Sie spielt gut und lacht ein helles Lachen, wenn sie eine Kugel versenkt. Ein Lachen, das Jevgenij immerzu hören möchte.

«Pessach gehört der Familie und den Freunden!», unterbricht der Vater Jevgenijs Gedanken. Es stimmt, Pessach haben sie sonst immer bei Freunden von Papa gefeiert. Die Erwachsenen haben mindestens so viel Wodka wie Wein getrunken und beim Lesen der Haggada Sprüche geklopft über den Auszug aus der Sowjetunion in die sogenannte Freiheit von Marktwirtschaft und Co.

Also bleiben beide Laptops, der mit Tetja Vanessa und der mit Rabbi Shapiro, auf dem Tisch. Der Seder bei Zoom hat schon angefangen. Gemeinsam mit den anderen, die alle in ihren eigenen Wohnzimmern hocken, tunken Jevgenij und seine Eltern Petersilie in Salzwasser. Der Vater entdeckt unter den Teilnehmern seinen Freund Igor und dessen Frau und winkt ihnen erfreut zu.

«Ma NISCHTANA» Beim «Ma nischtana» lächeln die Eltern aufmunternd. Aber Jevgenij ist schließlich schon Barmizwa, also erwachsen, und hat nicht vor, solo und nur für die Eltern die vier Fragen zu singen. Zum Glück übernimmt irgendein kleiner Junge mit heller Stimme diesen Part. Sein stolzes Gesicht wird groß eingeblendet: «Ma nischtana ha-Laila hase mikol ha-Lailot?» (Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten)?

Sogar Tetja Vanessa in ihrem fernen Moskau ist gerührt. Und Jevgenij hat Zeit, über die eigentlichen Fragen, die ganz wichtigen nämlich, nachzudenken. Gerne würde er Lilly fragen, ob sie in dieser besonderen Nacht mit ihm sein mag. «Angelehnt zu sitzen, ist doch vorgeschrieben für die Pessachnacht», träumt Jevgenij. «Lilly an ihn angelehnt, und er an sie ...»

Jakob und Noa wollen lieber wieder Purim feiern in der Synagoge mit den anderen Kindern. Nicht Pessach mit streitenden Eltern!

Einige Straßen weiter sitzt auch Lillys Familie am Sedertisch. Das heißt, der Vater und die drei Kinder sitzen da. Die Mutter liegt auf dem Sofa, die schweren Beine hochgelagert auf einem Stapel Kissen. Als sie von ihrer viel zu langen Schicht im Krankenhaus nach Hause kam, war sie so fertig, dass sie am liebsten gleich ins Bett gekracht wäre.

«Es ist Pessach, nicht nur Corona!», schimpfte Papa. «Ich habe eingekauft, geputzt, gekocht! Lilly hat den Sederteller hergerichtet!» Mama ist in Tränen ausgebrochen und weinend unter die Dusche gerannt. Lilly hat sich die beiden Kleinen geschnappt und ihnen Bilderbücher vorgelesen. Dann haben sich Jakob und Noa ihre Clownskostüme angezogen. Sie wollen lieber wieder Purim feiern in der Synagoge mit den anderen Kindern. Nicht Pessach mit streitenden Eltern!

Sederteller Beim Kiddusch haben sich Mama und Papa zum Glück wieder versöhnt und gemeinsam auf Hebräisch und Deutsch gesprochen: «Gelobt seist Du, Ewiger, der uns diese Zeit hat erreichen lassen.» Papa hat Mama ganz fest in den Arm genommen, als ihr bei «lasman hasäh» wieder Tränen in die Augen stiegen. Und jetzt liegt Mama in ihrer schönen Feiertagsbluse auf dem Sofa und schläft. «Lasst sie schlafen», sagt Papa. «Sogar in der Mischna steht, dass manche an Pessach einschlafen. Ist nicht weiter schlimm.»

Lilly und Papa lesen abwechselnd die Haggada. Lilly ärgert sich, dass immer nur von Vätern und Söhnen und anderen Männern die Rede ist. Die Väter werden aus Ägypten geführt, Rabbiner quatschen, und vier Söhne stellen Fragen. «Und die Töchter?», wirft Lilly ein. «Was ist mit denen? Was denkst du, Noa?»

Afikoman Aber Noa findet diese Frage ganz und gar nicht wichtig. Sie hat Hunger, und auch Jakob will essen. Außerdem wollen sie den Afikoman lieber jetzt schon suchen und ein Geschenk bekommen und nicht erst am Schluss vom Seder.

Noa und Jakob quengeln und zappeln, Papa und Lilly lesen schneller und überspringen ein paar Passagen in der Haggada. Erst bei den Plagen sind die Kleinen wieder begeistert bei der Sache und krähen das «Dajenu» so laut, dass Mama verwirrt aufwacht. Dann setzt sie sich mit an den Tisch und lacht: «Ihr habt recht. Dajenu! Genug geschlafen. Jetzt ist Pessach.»

Lilly möchte Jevgenij eine einzige Frage stellen. Aber es muss eine richtig gute Frage sein.

Spät in der Nacht, als Jakob und Noa längst mit ihren neuen Kuscheltieren im Arm im Bett liegen, hockt Lilly über ihrem Handy. Endlich hat sie Zeit für sich. Für sie war der Seder nicht eine Sekunde langweilig, immer musste sie auf irgendjemanden aufpassen, auf die Eltern genauso wie auf die kleinen Geschwister. Den Afikoman hat sie versteckt, die Haggada gelesen, die Mazzebällchen geformt.

Und nur ganz selten an Jevgenij gedacht. Jevgenij, der so tolle Augen und lange Wimpern hat, und der sie so anschaut, dass ihr ganz anders wird. Er hat ihre Handynummer. Aber er meldet sich nicht. Sie hat auch seine Handynummer. Aber die Jungs müssen sich doch zuerst melden, oder? Halt, stopp! Hat sie ihrem Papa heute nicht erklärt, wie doof das ist, wenn immer nur Jungs fragen?

Lilly möchte Jevgenij eine einzige Frage stellen. Aber es muss eine richtig gute Frage sein. Nicht so eine «einfältige» wie von dem einen Sohn in der Haggada. «Was bedeute ich dir, möchte ich ihn fragen», denkt Lilly. Sie probiert mindestens 35 Fassungen, bevor sie endlich auf «senden» drückt. «Kommst du morgen mit mir spazieren?» Und Jevgenij antwortet innerhalb von Sekunden: «Ja!»

Die Autorin ist Schriftstellerin. Zum Thema Pessach erschien ihr Kinderbuch «Chaos zu Pessach» (Hentrich & Hentrich, Berlin 2012, 36 S., 14,90 €).

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