In jüngster Zeit wird Jalta von manchen jüdischen Frauen fast wie ein Geheimtipp gehandelt: Da gebe es doch, heißt es, im Talmud diese aufmüpfige Gelehrte, die sich die misogynen Äußerungen eines Rabbiners nicht gefallen ließ …
Was ist »dran« an dieser Interpretation, und wer ist Jalta? Lediglich sieben Erwähnungen dieser Frau finden wir im Babylonischen Talmud: Berachot 51b, Schabbat 54b, Beitza 25b, Gittin 67b, Kidduschin 70ab, Chullin 109b – 110a und Nidda 20b. Daraus lässt sich nicht die Biografie von Jalta rekonstruieren, aber die Geschichten über sie entwerfen das Bild einer selbstbewussten, gebildeten Persönlichkeit.
FAMILIE Nach diesen spärlichen Überlieferungen stammte Jalta aus vornehmem Hause – ihr Vater war der Resch Galuta, also das Oberhaupt der jüdischen Gemeinschaft in Babylonien. Und verheiratet war sie mit Rav Nachman bar Jakob, dem führenden Rabbiner der Akademie von Nehardea im 3. Jahrhundert. Die beiden hatten mindestens eine Tochter, deren Name »Donag« sogar erwähnt wird (Kidduschin 70a).
Jalta war es wichtig, den »Becher des Segens« selbst zu halten.
In Beitza 25b wird erzählt, dass man Jalta am Schabbat wegen ihres hohen sozialen Status, und weil ihre Dienste von den Menschen benötigt wurden, in einer Sänfte trug. Möglicherweise bezieht sich das auf ihre medizinischen Kenntnisse, zumindest verschaffte eine von ihr empfohlene Badekur einem Kollegen ihres Mannes Linderung (Gittin 67b). Es ist auch eine umfängliche Diskussion überliefert, die sie mit ihrem Mann führte und die ihr Wissen um halachische Argumentationen belegt (Chullin 109b).
Am ausführlichsten tritt uns Jalta in der folgenden Erzählung gegenüber (Berachot 51b): »Einst war Ulla bei Rav Nachman eingekehrt. Er aß Brot, sprach den Tischsegen und reichte Rav Nachman den Becher des Segens. Da sprach Rav Nachman zu ihm: ›Möge doch der Meister den Becher des Segens auch zu Jalta senden!‹
Doch dieser erwiderte: ›Folgendes sprach Rabbi Jochanan: Die Frucht des Leibes der Frau wird allein durch die Frucht des Leibes des Mannes gesegnet, denn es heißt: Er (Gott) wird die Frucht deines Leibes segnen‹ (5. Buch Mose 7,13). Es heißt nicht ›die Frucht ihres Leibes‹, sondern ›die Frucht deines (maskulin) Leibes‹. (…)
Als Jalta dies hörte, stand sie zornig auf, ging hinauf in die Weinkammer und zerschlug 400 Krüge Wein. Da sagte Rav Nachman zu ihm (Ulla): ›Möge der Meister ihr doch einen anderen Becher schicken!‹ Da übermittelte er (Ulla) ihr: ›Dies alles gehört zum Kelch des Segens.‹ Sie übermittelte ihm: ›Von Herumtreibern kommt Geschwätz, von Lumpen Ungeziefer.‹«
ARBEITSESSEN Die Szene spielt sich im Haus von Rav Nachman und Jalta in Nehardea ab. Der Gast Ulla ist ein »Nechutej«, ein Wanderrabbiner, der zwischen den jüdischen Gemeinden im Land Israel und in Babylonien hin- und herreist. Es handelt sich also um ein Arbeitsessen von Kollegen, die Erkenntnisse und Meinungen austauschen, allerdings nicht in der Akademie, sondern im häuslich-familiären Umfeld von Rav Nachman in Nehardea.
Die Dame des Hauses, Jalta, ist zugegen und Teil der Tischgemeinschaft. Hierbei prallen Lehrmeinungen und Vollzug von religiösem Leben im häuslichen Umfeld aufeinander.
Die Geschichte über die Konfrontation zwischen Ulla und Jalta ist Teil der talmudischen Erörterung darüber, wie das Tischgebet, der abschließende Segen über den Wein und das Halten des Bechers gestaltet werden, um all dies zu einer besonders würdigen, heiligen Handlung zu machen. Dabei den »Becher des Segens« zu halten, wird als Ehre und zugleich als Zusage des Segens betrachtet.
Und vermutlich spielen unterschiedliche Gepflogenheiten eine Rolle: Ullas Verhalten reflektiert die Praxis im Land Israel, wo es unter Einfluss römischer Auffassung von sozialen Hierarchien üblich war, dass »Frauen, Sklaven und Minderjährige« nicht Teil des Rituals des Tischgebets sind. In Babylonien hingegen, oder zumindest im Haushalt von Rav Nachman, scheint die Frau daran teilzunehmen.
Nach der Zerstörung des Tempels wird der Altar durch den häuslichen Tisch symbolisiert.
Während also Rav Nachman seine Frau wertschätzen möchte, indem er ihr den »Becher des Segens« senden lassen will, erklärt der Gast, der Segenswunsch an sie sei verschwendet.
FRUCHTBARKEIT Ullas Begründung könnte kaum frauenfeindlicher ausfallen: Er beruft sich auf das 5. Buch Mose 7,13 (»Er wird die Frucht deines Leibes segnen«) und versteht die maskuline Form von »deine« als Frucht des Leibes des Mannes.
Dabei übersieht er, dass mit dieser Segenszusage nicht ein einzelner Mann angesprochen ist, sondern das Kollektiv des Volkes Israel. Ulla sagt also, dass sich der Segen der Fruchtbarkeit allein im Samen des Mannes manifestiert, während die Frau und ihr Körper lediglich ein Behältnis dafür während der Schwangerschaft darstellten.
Diese Erklärung und das demonstrative Verhalten des Gastes, die Frau des Hauses nicht zur Tischgemeinschaft zu zählen und am »Becher des Segens« teilhaben zu lassen, erzürnt Jalta. Sie geht in die Weinkammer hinauf und zerschlägt dort 400 Krüge Wein, deren Inhalt sich über das Haus ergießt. Damit macht sie sichtbar, welch Übermaß von Segen (symbolisiert durch auslaufenden Wein) durch sie persönlich kommt.
Beim »Kelch des Segens« geht es ihr nicht um das Trinken des Weins, sondern um die Teilhabe am Ritual des Tischgebets und die mit dem Becher verbundene Wahrnehmung. Darum lässt sie sich auch nicht durch den Hinweis beruhigen, dass der Inhalt des Bechers doch wie der Rest aus dem Weinkrug sei.
ZORN Die Jerusalemer Talmudwissenschaftlerin Ruchama Weiss weist darauf hin, dass das aramäische Wort für »Zorn« (Sihara), das hier Jaltas Handeln motiviert, auch die Bedeutung von »Anteil, Gut, eigener Besitz« hat. Ihr die Teilnahme am Tischgebet streitig zu machen, heißt, sie aus einem großen Lebensbereich auszuschließen, mit dem das jüdische Volk seine Beziehung zu Gott ausdrückt, nämlich die Danksagung für Nahrung und Segen. Das wiegt umso schwerer, da gemäß rabbinischer Auffassung nach der Tempelzerstörung der Altar als Ort der Annäherung der Menschen an Gott durch den häuslichen Tisch symbolisiert wird.
Mit ihrer ironischen Äußerung »Von Herumtreibern kommt Geschwätz, und aus Lumpen kommt Ungeziefer« verweist sie Ulla auf den Rang von jemandem, der einen Großteil seines Lebens auf Landstraßen verbringt und wiedergibt, was er nicht nur in den Lehrhäusern, sondern auch unterwegs aufgeschnappt hat. Damit betont Jalta den sozialen Gegensatz zu ihrem eigenen Haushalt der »Upper Class« in Wohlstand, Gelehrsamkeit und mit einer religiösen Praxis, die alle Mitglieder der Hausgenossenschaft einbezieht.
Dem Talmud geht es nicht primär um die persönliche Fehde zwischen Jalta und Ulla.
Dem Talmud geht es nicht so sehr um die persönliche Fehde zwischen Jalta und Ulla. Es ist vielmehr ein Prinzip der rabbinischen Literatur, durch die Überlieferung von Äußerungen, Lehrmeinungen und illustrierenden Geschichten die Klärung der ganz großen Frage voranzutreiben: Wie können Juden und Jüdinnen ein gottgefälliges Leben führen? Wie soll sich die Gottesbeziehung des Individuums und auch des ganzen Volkes bis in feinste Details des Lebensvollzugs hinein ausdrücken?
WELTSICHT Bei dem hier ausgetragenen Konflikt wird etwas ganz Grundsätzliches verhandelt: Aus welchem Kontext heraus werden religiöse Entscheidungen gefällt, die für das jüdische Volk Geltung haben sollen? Lehrdiskussionen, die in einer rein männlichen Umgebung geführt werden, führen zwangsläufig zu einer Weltsicht, in der Frauen nicht vorkommen. Was bedeutet es, wenn der häusliche Tisch an die Stelle des Altars getreten ist, aber Frauen von Ritualen als Ausdruck religiösen Lebens, als Heiligung von Alltagshandlungen ausgeschlossen sind?
Der Zorn Jaltas über die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Ausdruck der Gottesbeziehung Männern vorbehalten bleiben soll, ist verständlich. Ulla nimmt eine strikte Unterscheidung zwischen einer Männer- und einer Frauenwelt vor, wobei Ersterer die öffentliche Religionsausübung und Letzterer vor allem reproduktive Funktionen zugewiesen werden. Dagegen scheint Jaltas Anspruch, dass alle Mitglieder der Hausgemeinschaft von Gott gesegnet sind und aktiv Anteil am religiösen Lebensvollzug haben, eher unsere eigene gesellschaftliche Wirklichkeit zu repräsentieren.
In dieser Reihe stellen wir in unregelmäßigen Abständen Talmudgelehrte vor. Die Autorin ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Hameln und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).