Talmudisches

Die Flucht im Sarg

Rabban Jochanan ben Sakkai stellte sich tot und ließ sich in einem Sarg aus der Stadt tragen, denn kein Lebender durfte Jerusalem verlassen. Foto: Gregor Zielke

Talmudisches

Die Flucht im Sarg

Wie Jochanan ben Sakkai Jerusalem verließ

von Konstantin Schuchardt  11.07.2017 10:19 Uhr

Über Jerusalem hängt heute nicht mehr der Rauch von Brandopfern. Dies lässt sich auf Ereignisse zurückführen, die fast 2000 Jahre zurückliegen und mit den Namen Vespasian und Jochanan ben Sakkai verbunden sind.

Rabban Jochanan ben Sakkai gilt als geistiges Oberhaupt der Juden nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer. Er starb um das Jahr 80 n.d.Z und legte nach dem Zusammenbruch der nationalen und religiösen Strukturen den Grundstein für ein Wiedererstarken jüdischen Lebens.

Flavius Josephus Nach vier Jahren Krieg lag Jerusalem im Jahr 70 n.d.Z. in Trümmern. Der Tempel war zerstört, und sein Inventar wurde als Kriegsbeute nach Rom verschickt. Der zeitgenössische Historiker Flavius Josephus schrieb: »Weder das hohe Alter der Stadt noch ihr ungeheurer Reichtum noch die Verbreitung des zu ihr gehörigen Volkes über die ganze Erde, noch der große Ruf des in ihr gepflegten Gottesdienstes vermochte sie vor dem Untergang zu bewahren.« Was im Jahr 66 n.d.Z. als Empörung über die Opferung eines Hähnchens vor einer Synagoge durch syrische Nichtjuden in der Hafenstadt Caesarea begonnen hatte, entwickelte sich zu einem blutigen Aufstand gegen das Römische Reich.

Der brutale Statthalter Florus zog voller Wut über die in Ceasarea aufbegehrenden Juden nach Jerusalem und forderte eine hohe Summe aus dem Tempelschatz. Als jüdische Jugendliche sich über ihn lustig machten und ihm Kleingeld hinwarfen, eskalierte die Situation, und seine Soldaten töteten zahlreiche Juden. Aus Protest stellte die Priesterschaft im Tempel das Dankopfer für den Kaiser ein, was einer Kriegserklärung gleichkam.

Etwa vier Jahre und viele Schlachten später hatten römische Legionen Jerusalem eingekesselt und hungerten die Stadt aus. Im Inneren der Stadtmauern tobte zugleich ein erbitterter Bürgerkrieg zwischen einzelnen jüdischen Fraktionen.

Blockade In dieser Situation wandte sich Jochanan ben Sakkai, so berichtet der Talmud im Traktat Gittin, an seinen Neffen Abba Sikkara, der ein Befehlshaber jener Fraktion war, die die Stadttore kontrollierte, und fragte ihn, wie er trotz der Blockade die Stadt verlassen könne. Abba Sikkara schlug vor, ben Sakkai solle sich tot stellen und sich in einem Sarg liegend aus der Stadt tragen lassen, denn kein Lebender könne die Stadt verlassen.

Im Sarg passierte der Gelehrte die Wachposten und machte sich auf den Weg zum Heerlager der Römer. Dort angekommen, trat er vor den befehlshabenden Feldherrn Vespasian und sprach: »Ich grüße euch, königliche Hoheit!« Vespasian antwortete: »Du nennst mich König, aber ich bin keiner. Darauf steht die Todesstrafe!« Ben Sakkai sagte: »Wenn du kein König bist, wird Jerusalem nicht in deine Hände fallen.«

In diesem Moment trat ein Bote hinzu und verkündete Vespasian: »Der Kaiser ist gestorben, und die Autoritäten haben euch zu seinem Nachfolger bestimmt.« Der erstaunte Vespasian sagte: »Ich werde sofort nach Rom aufbrechen. Ein anderer wird an meiner statt den Feldzug gegen Jerusalem führen.« Er wandte sich zu Jochanan ben Sakkai und sagte: »Bevor ich gehe, möchte ich dir einen Wunsch erfüllen.« Der Gelehrte sprach: »Gib mir Jawne! Zerstöre es nicht und verschone seine Gelehrten.« Vespasian erfüllte ben Sakkais Wunsch, und das Lehrhaus, die Keimzelle des rabbinischen Judentums, wie wir es heute kennen, wurde in der Küstenstadt Jawne gegründet.

Titus Diese talmudische Erzählung bildet die Gründungslegende des rabbinischen Judentums. Die Begebenheiten lassen sich zwar nicht überprüfen, doch Fakt ist: Vespasian wurde Kaiser. An seiner Stelle brannte sein Sohn Titus Jerusalem nieder und vernichtete den Tempel.

Unbestritten ist ebenfalls, dass das Judentum auch ohne den Tempeldienst bis heute überleben konnte. Das Provisorium eines tempellosen Judentums hat sich in den vergangenen fast 2000 Jahren als sehr praktikabel erwiesen. Auch wenn jeden Tag für die Wiedereinführung des Opferdienstes gebetet wird, sind die meisten Juden froh, dass das Gebet ihn abgelöst hat.

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025

Chaje Sara

Bewusster leben

Sara hat gezeigt, dass jeder Moment zählt. Sogar ihr Schlaf diente einem höheren Ziel

von Samuel Kantorovych  13.11.2025