Der amerikanische Soziologe Samuel Heilman ist durch eine Reihe vorzüglicher Arbeiten über das Leben von orthodoxen Juden bekannt geworden. In seinem neuen Buch erzählt er meisterhaft die Geschichte von fünf chassidischen Dynastien.
Es existieren in unseren Tagen noch sehr viele andere chassidische Gruppen, aber der Autor will keinen Überblick über den heutigen Chassidismus geben. Es sollten lediglich Nachfolgerprobleme im zeitgenössischen Chassidismus untersucht werden, und zur Klärung dieser Frage genügte dem Verfasser die Analyse von wenigen Dynastien, die er nach forschungsstrategischen Gesichtspunkten ausgewählt hat.
Beziehung Das geistige Oberhaupt einer chassidischen Gruppe, der Rebbe, spielt eine bedeutende Rolle im Leben seiner Anhänger, die in ihrem Meister ein Vorbild sehen. Chassidim nehmen an, dass der Rebbe in der Lage ist, ihr Dasein in jeglicher Hinsicht positiv zu beeinflussen. Daher bemühen sie sich um eine möglichst enge Beziehung zu ihrem geistigen Führer. Führungswechsel sind nicht zu vermeiden, denn auch jeder Rebbe ist sterblich. Dass ein Führungswechsel manchmal eine ernste Krise mit sich bringt, und wie eine solche Situation gelöst werden kann, demonstriert Heilman an prägnanten Beispielen.
Zwei der von Heilman beschriebenen Gruppen kamen durch besondere Umstände in die missliche Lage, eine Herde ohne Hirte zu sein. Der Munkatscher Rebbe, Rabbiner Baruch Rabinovich (1914–1997), wollte nach dem Holocaust sein Amt aus verschiedenen Gründen nicht weiterführen. Der Autor skizziert die wechselvolle Lebensgeschichte dieses Gelehrten, die man als tragisch bezeichnen kann.
Am Ende wurde sein dritter Sohn (Jahrgang 1940) der neue Munkatscher Rebbe. Allerdings gab es zwischen Vater und Sohn so große Spannungen, dass der alte Rebbe seinem Nachfolger im Jahre 1980 schriftlich untersagte, jemals sein Grab zu besuchen.
Jerusalem Die Bojaner-Dynastie drohte ohne einen geistigen Führer auseinanderzufallen, als ihr Rebbe, Rabbiner Mordechai Schlomo Friedman (1891–1971), starb und niemand, der dafür geeignet war, das so wichtige Amt übernehmen wollte. Erst Jahre später wurde ein Enkel, Rabbiner Nachum Dov Brayer (Jahrgang 1959), der neue Bojaner Rebbe. Dieser residiert heute in Jerusalem.
Bei zwei weiteren Gruppen, deren Geschichte Heilman darstellt, gab es gleich mehrere Bewerber um die vakante Führungsposition. Die Geschichte der Bobover Dynastie ist besonders dramatisch. Der dritte Bobover Rebbe, Rabbiner Schlomo Halberstam (1907–2000), dessen Frau und zwei seiner Kinder in Auschwitz ermordet wurden, heiratete 1948 ein zweites Mal. Ihm folgte sein Sohn aus erster Ehe, Rabbiner Naftali Halberstam (1931–2005).
Als dieser Sohn starb, wollten sowohl sein Halbbruder aus zweiter Ehe als auch ein Schwiegersohn des Verstorbenen die Rebbeschaft übernehmen. Da eine gütliche Einigung nicht zu erzielen war, fand ein langwieriges Gerichtsverfahren statt. Die Entscheidung der Richter löste das Problem nur formal: Bobov ist in zwei Gruppen gespalten, die jeweils ihrem Rebben folgen.
Satmarer Die zahlenmäßig größte chassidische Dynastie in Amerika ist heute Satmar. Der Begründer dieser chassidischen Gruppe war Rabbiner Joel Teitelbaum (1886–1979), der eine streng antizionistische Ideologie vertrat. Als sein Neffe und Nachfolger, Rabbiner Moshe Teitelbaum (1914– 2006), starb, beanspruchten zwei seiner Söhne, Rabbiner Aron Teitelbaum (Jahrgang 1947) und Rabbiner Salman Leib Teitelbaum (Jahrgang 1952), die Rebbeschaft von Satmar. Der Autor beschreibt sorgfältig, wie es zu diesem unerquicklichen Streit kommen konnte, der zu einer Spaltung der Satmarer führte.
Die letzte chassidische Dynastie, deren Entwicklung Heilman nachzeichnet, ist Chabad Lubawitsch. Ihr siebenter Rebbe, Rabbiner Menachem Mendel Schneerson, starb am 12. Juni 1994. Der Gelehrte, der viele Menschen inspiriert hatte, blieb kinderlos.
Bis heute haben seine Chassidim keinen Nachfolger für ihren Rebben ernannt. Warum? Der Verfasser gibt an mehreren Stellen folgende Antwort: Weil seine Anhänger der Ansicht sind, dass der siebente Rebbe immer noch ansprechbar ist und in unserer Welt wirkt.
Heilmans wissenschaftliches Werk über fünf heute noch aktive chassidische Gruppen ist beeindruckend. Er hat ein emsiges Quellenstudium betrieben und zahlreiche Interviews mit Beteiligten und Fachleuten geführt. Jede Feststellung wird in einer Anmerkung penibel belegt. 24 Fotos zeigen die Personen, von denen im Text die Rede ist. Hervorzuheben ist, dass der amerikanische Forscher so anschaulich und spannend wie ein Romancier schreiben kann. Das vorliegende englischsprachige Buch ist informativ und unterhaltsam zugleich.
Samuel C. Heilman: »Who Will Lead Us? The Story of Five Hasidic Dynasties in America«. University of California Press, Oakland 2017, XVII S. und 318 S., 29,95 $