Ha’asinu

Die eigene Arroganz besiegen

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»Hört, ihr Himmel, lasst mich sprechen, lasst die Erde vernehmen, was ich sage!« Mit diesen Worten leitet Mosche in unserem Wochenabschnitt sein letztes Lied ein, auf das eine poetische Prophetie folgt. Der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) klassifiziert in diesem ersten Vers Himmel und Erde eindeutig als Zeugen, als »Eidim«. Zeugen wofür?

Unsere Rabbiner verweisen auf den Talmud im Traktat Avoda Sara 3a, der Himmel und Erde als voreingenommen bezeichnet und dadurch als unfähig, wenn es darum geht zu bezeugen, ob das jüdische Volk nach der Tora gehandelt hat oder nicht. Es ist im eigenen Interesse von Himmel und Erde, bezeugen zu können, dass das jüdische Volk die Tora befolgt hat. Denn wenn nicht, würden selbst Himmel und Erde aufhören zu existieren.

Annahme Wofür also sollten Himmel und Erde Zeugen sein? Es muss ein Zeugnis der Annahme der Tora und der damit einhergehenden Warnung vor den Folgen sein, sollte sie vernachlässigt werden. Hier besteht dann auch kein Problem der Voreingenommenheit, da Himmel und Erde hier nicht die eine oder andere Handlungswahl und letztendliche Entscheidung der Juden bezeugen, sondern »lediglich« zugegen sind, wenn das jüdische Volk die lebenslange und generationenübergreifende Verpflichtung annimmt (5. Buch Mose 30,19).

Raschi bestätigt diese Erklärung. Doch handelt es sich hier um die Zeugenfunktion von Himmel und Erde in einer ganz anderen Parascha, dem Wochenabschnitt Nizawim, in dem Mosche nicht – wie in unserem Abschnitt – zu Himmel und Erde spricht, sondern zum jüdischen Volk, mit Berufung auf Himmel und Erde als Zeugen.

Hier, in Ha’asinu, beschwört Mosche Himmel und Erde direkt. Die erste Deutung passt in unserem Wochenabschnitt also nicht. Der italienische Talmudist Zera Schimschon erklärt nun, wie die Zeugenfunktion in unserer Parascha zu verstehen ist: Himmel und Erde können keine Zeugen sein, wenn wir Himmel und Erde jeweils als einen Zeugen betrachten.

beobachter Wenn jemand im Geheimen, also in seinem Haus oder einer Höhle in der Erde, entgegen der Tora handelt, ist nur die Erde Beobachter. Halachisch ist eine Zeugenaussage nur koscher und damit gültig, wenn die Tat von beiden Zeugen, von Himmel und Erde gleichzeitig, beobachtet wurde.

Wenn dieser Mensch nun hinausgeht vor Himmel und Erde, es also in der Öffentlichkeit macht, dann ist das jüdische Volk dazu da, als Zeuge aufzutreten. Sie machen so Himmel und Erde als Zeugen obsolet. Und was wäre, wenn, G’tt behüte, das ganze Judentum im Kollektiv gegen die Tora handeln würde und Himmel und Erde als einzige Zeugen übrig blieben?

Dann kämen wir wieder zurück zum Problem der daraus resultierenden Auslöschung des Daseins, was Himmel und Erde als Zeugen abermals voreingenommen in ihrer Aussage machen würde (wie oben im Talmud beschrieben).

Fazit: Himmel und Erde können also in keinem Szenario gegen das jüdische Volk eine valide Zeugenaussage machen, wenn es darum geht, ob sie mit der Tora gehen oder gegen sie.

Öffentlichkeit Zera Schimschon erklärt: Himmel und Erde sind keine aussagenden Zeugen. Doch trotzdem wirken sie durch zwei Prinzipien, die wir auch in der Halacha erkennen, auf das jüdische Volk ein. So kann Mosche sie auch als »Zeugen« anrufen:

Basierend auf Maimonides, dem Rambam (1138–1204), in Hilchot Eidut (5,8) ist jemand bereits ein »Zeuge«, wenn er nur gesehen hat, ohne auszusagen. Demnach wirken Himmel und Erde nicht willkürlich auf uns ein, sondern auf Basis dessen, was »gesehen« wurde.

Basierend auf dem Rambam in Hilchot Mamrim (5,12) ist eine Person, die einen zum Tode Verurteilten schlägt, frei von Strafe. Demnach ist es verständlich und legitim, dass Himmel und Erde destruktiven Einfluss auf jemanden ausüben, für den von Gʼtt anfänglich ohnehin ein vielleicht viel schwerwiegenderes Urteil bestimmt worden ist.

freier wille Himmel und Erde sind demnach in unserer Parascha Gʼttes Medium, durch das Strafe und Belohnung entweder auf uns zukommen oder aber wegbleiben, abhängig von unserem freien Willen und unseren Entscheidungen. Sie sind also weder Ankläger noch gegen uns aussagende Zeugen. Durch sie wird Haschems Reaktion auf unsere Handlungen ausgedrückt.

Jede Sekunde und jedes Detail unseres Lebens hat Auswirkungen, egal ob etwas öffentlich passiert oder im Verborgenen. Zera Schimschon macht uns in Paraschat Haʼasinu auf einen essenziellen Wert aufmerksam, den sich jeder aneignen sollte, auch wenn es nicht leicht ist: die eigene Integrität und Kohärenz im alltäglichen sowie im nicht alltäglichen Leben, im Privaten sowie im Öffentlichen. Wer die Tora immer gleich hochhält, unabhängig davon, ob er sich allein hinter verschlossenen Türen befindet oder unter Menschen – der lebt in Wahrheit und Authentizität.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) sagt zu unserem Vers: »Die Vollstreckung der von Himmel und Erde zu erwartenden Vertretung des Gottesbundes kommt in erster Linie vom Himmel, indirekt erst von der Erde zum Vollzuge. Aktiv ist zunächst der Himmel, die Erde mehr passiv; denn aller Segen und Unsegen der physischen Entwicklung der Erde, und soweit sie von diesen bedingt sind, auch der menschengesellschaftlichen Verhältnisse, sind von kosmischen außerirdischen Veränderungen bedingt, die in dem Begriff Schamajim (Himmel) enthalten sind. Was auf Erden sich gestalten soll, muss erst mit Wirkungen des ›Himmels‹ beginnen.«

beweis Das erste Wort dieses Verses, »Haʼasinu« – wörtlich: »gebt Ohr« –, ist also der Beweis dafür, dass Jirat Schamajim, die Ehrfurcht vor dem Himmel, immer notwendig ist und sich immer lohnt, egal ob in der Öffentlichkeit, in den Augen anderer oder im Verborgenen, unter sich. Was aber ist Jirat Schamajim genau?

Ein guter Freund von mir sagte einmal, dass Jirat Schamajim in jedem Aspekt das genaue Gegenteil von Gleichgültigkeit ist. Wer aus Liebe und Überzeugung handelt, nicht aus Angst vor Strafe, sondern wegen Jirat Schamajim, der besiegt die eigene Arroganz und die menschliche Eigenschaft, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen.

Vor zwei Zeugen sollte man stets aufrichtig und ehrlich sein: vor Gʼtt und vor sich selbst. Wenn wir das beherzigen und lernen, unsere Jirat Schamajim in jeglicher Situation wahrzunehmen, dann wird unsere Welt im Handumdrehen eine bessere. Davon bin ich überzeugt.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

Inhalt
Der Wochenabschnitt gibt zu einem großen Teil das »Lied Mosches« wieder. Mosche trägt es dem Volk vor und weist darauf hin, wie wichtig es ist. Er fordert die Israeliten auf, sich an den Werdegang der Nation und an ihre Vorfahren zu erinnern, die den Bund mit G’tt geschlossen haben. Das Lied erzählt von der Macht G’ttes und wie sie sich in der Geschichte der Welt gezeigt hat. Es erinnert an das Gute, das der Ewige dem Volk Israel zuteilwerden ließ, aber auch an die Widerspenstigkeit der Israeliten und die Bestrafung dafür. G’tt spricht zu Mosche und fordert ihn auf, auf den Berg Newo zu kommen. Von dort soll er auf das Land Israel schauen – betreten aber darf er es nicht.
5. Buch Mose 32, 1–52

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