Möglicherweise ist es ja nur ein Gerücht: Mancherorts sollen Kartoffeln vor dem Verkauf mit Erde bestreut werden, damit sie im Supermarkt besonders natürlich wirken. Auch für mich und meine Großstadtfamilie ist die eigenhändige Ernte auf einem Landgut im Berliner Südwesten ein großer Tag, an dessen Ende wir stolz die selbst gelesenen Kartoffeln nach Hause tragen. Dennoch: So schön ich es fände, jede Woche die Challe selbst zu backen, bin ich doch froh, dass ich sie im Koscherladen um die Ecke fertig kaufen kann, wenn die Zeit nicht zum Backen reicht. Und normalerweise kenne ich die Henne nicht, die mein Frühstücksei gelegt hat – selbst wenn dieser Tage der »Erlebnisbauernhof« in den Messehallen der Berliner »Grünen Woche« zum Streicheln von Hühnern und Kälbchen einlädt. Ganz so einfach ist es also nicht mit dem Loblied auf das natürliche Essen, das ich zu Tu Bischwat angesichts des Dioxin-skandals gern singen würde.
Sich bewusst zu machen, dass Nahrung keine Selbstverständlichkeit ist, sondern dass es menschlicher Arbeit und göttlicher Kraft bedarf, ist Sinn und Zweck des einfachsten jüdischen Gebetes, jeder Bracha, die wir vor dem Essen sprechen. Die Notwendigkeit des Nachdenkens ist schon gegeben, wenn wir wissen müssen, ob eine bestimmte Frucht aus der Erde stammt oder am Baum wächst.
Globalisierung Über Jahrhunderte hat das Judentum die Beziehung zur Natur und zur Erde in einer ganz besonderen Weise gepflegt. Die Landschaft einschließlich ihrer Lebewesen, die in den heiligen Texten vorkam, war normalerweise Tausende von Kilometern entfernt. Und wenn wir an diesem Donnerstag Tu Bischwat feiern, das »Neujahr der Bäume«, dann ist es, wenn überhaupt, der Frühlingsanfang in Israel, aber sicher nicht der in Mitteleuropa. Es geht also nicht um ein naives »Zurück an den Busen der Natur«, sondern darum, unser Verhältnis zu Tieren und Pflanzen im Allgemeinen und der Verwendung als Nahrung im Besonderen in der globalisierten und technisierten Welt des 21. Jahrhunderts zu reflektieren. Dies bedeutet auch, die jüdischen Regeln zum Umgang mit Tieren und Pflanzen zu durchdenken.
Die Kaschrut übt uns täglich darin, herauszufinden, was ein Lebensmittel enthält und wie es hergestellt wurde. Die zunehmende Abhängigkeit von rabbinischen Zertifikaten zeigt, dass die Verunsicherung darüber, was auf unseren Tellern landet, immer weiter zunimmt. Unser System von Kaschrut hat sich in einer Zeit entwickelt, als der Weg von Tieren und Pflanzen in die Küche noch ein sehr kurzer war. Wer nicht selbst Landwirtschaft betrieben hat, kaufte die Lebensmittel beim Erzeuger oder über höchstens einen Zwischenhändler, sodass die Herkunft leicht nachvollziehbar war. Massentierhaltung, Altfette und Tiermehl im Futter waren genauso undenkbar wie Genmanipulation und Pestizide.
Wohlbefinden Dass die Kaschrut-Regeln für das Fleisch nur über das Schlachten sprechen, liegt daran, dass man früher in der Tierhaltung so gut wie nichts falsch machen konnte. »Tzaar Baalei Chajim« – das Vermeiden des Leidens von Lebewesen – gilt aber folgerichtig nicht nur beim Schächten, sondern es sollte selbstverständlich sein, dass Fleisch aus Massentierhaltung nicht koscher sein kann. Dass Raubtiere und -vögel nicht koscher sind, begründet Maimonides damit, dass wir uns nicht von Tieren, die andere Tiere fressen, ernähren sollen, denn die »Raubtierhaftigkeit« würde sonst als Eigenschaft auch auf den Menschen übergehen. Daraus ergeben sich zwei Folgerungen: Ernährung durch Tiermehl ist selbstverständlich ausgeschlossen, aber auch das Wohlbefinden der Tiere gewinnt an Bedeutung, da sonst ihre Panik, Angst und ihr Schmerz ebenso weitergegeben werden.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Bedeutung von Tu Bischwat im jüdischen Kalender gewandelt. Was ursprünglich kaum mehr als ein Stichtag zur Festlegung des steuerlichen Agrarjahres war, wurde, seitdem im frühen Zionismus die Kabbalisten in Safed das Datum wiederentdeckten, zu einem Tag, an dem die neue Verbindung mit dem Land Israel gefeiert wird. Das zeigt sich vor allem darin, dass KKL-Büchsen gefüllt und Baumpflanzzertifikate erstanden werden. In den vergangenen 30 Jahren fing man plötzlich wieder an, einen Tu-Bischwat-Seder zu feiern. Formal wurde damit an die Kabbalisten angeknüpft, doch setzt man sich tatsächlich zunehmend mit Umweltschutz und nachhaltigem Wirtschaften auseinander. Projekte zu Solaranlagen auf Synagogendächern oder Öko-Kaschrut-Siegel sind daraus entstanden.
Wenn wir eine Bracha darüber sprechen, dass die Nahrung »aus der Erde« kommt, ist das vielleicht ein wichtiger Schritt dazu, dass sie weniger »aus der Fabrik« stammen sollte. Tu Bischwat ist eine gute Gelegenheit, die Werte der jüdischen Tradition in die aktuelle Diskussion um Food-Technologie und Nachhaltigkeit einzubringen.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.