Die Nacht des 14. April 1912 war dunkel, aber klar, und das majestätische Schiff stampfte mit einer Geschwindigkeit von 22,5 Knoten monoton durch das eiskalte Wasser des Atlantiks. Der tiefblaue Ozean verschmolz mit dem dunklen Himmel, und so strahlte die Beleuchtung des Schiffes wie eine schwebende Lichterkette in der Finsternis. Das Abendessen war schon seit einer Weile beendet, und die meisten Passagiere hatten sich in ihre mehr und weniger vornehmen Kajüten zurückgezogen.
Es gibt Hinweise darauf, dass es auf der »Titanic« auch koschere Verpflegung gab und einen jüdischen Koch namens Charles Kennel. Zahlreiche jüdische Passagiere waren an Bord, Menschen verschiedenster Herkunft und sozialer Schicht, mit dem gemeinsamen Ziel, New York zu erreichen.
Einer davon war Simon Maisner. Der 34-jährige gelernte Schneider stammte aus Nova Praga in der heutigen Ukraine und wollte sein Glück in der »Goldenen Medine« (die jiddische Beschreibung für Amerika als »goldenes Land«) versuchen. Seine junge Frau Sarah und drei kleine Kinder sollten ihm später nachfolgen. Simon Maisner hatte seine gesamten Ersparnisse zusammengekratzt, um sich die Überfahrt leisten zu können, und reiste als Passagier der dritten Klasse im Bauch des Schiffes.
Doch wie wir wissen, kam die Titanic niemals in New York an. Am 14. April um 23.40 Uhr kollidierte das größte Passagierschiff seiner Zeit mit einem Eisberg, und in der Folge verschwand das als unsinkbar gepriesene Schiff innerhalb von zweieinhalb Stunden in den Tiefen des Ozeans. Von 2224 Passagieren starben 1514. Ein Jahr nach der Tragödie im Jahr 1913 nahm Yossele Rosenblatt, der weltberühmte Kantor, einen »Kel Mela Rachamin«, ein Gebet für die verstorbenen Seelen der Titanic, auf.
Wann kann ein Schiffbrüchiger für tot erklärt werden?
Auch Simon Maisner, der als Passagier dritter Klasse im Bug des Schiffes untergebracht war, hatte kaum Überlebenschancen und versank in den eiskalten Fluten. Seiner jungen Frau Sarah, die in der Ukraine verblieben war, drohte nun das Schicksal, eine sogenannte Aguna, eine Gefesselte, zu werden: Denn laut der Halacha ist einer verheirateten Frau die Wiederheirat erst dann erlaubt, wenn sich ihr Mann von ihr scheidet oder der Tod des Ehemannes eindeutig nachgewiesen ist.
Doch Simon Meisner konnte niemals unter den Opfern identifiziert werden. Verzweifelt wandte sich seine Frau an den Rabbiner ihrer Stadt, Rav Jakov Meskin, um einen Ausweg aus ihrer scheinbar ausweglosen Situation zu finden.
In seinem Werk Beit Jakob ist die Responsa (Siman 49) abgedruckt, die sich mit der Frage von Sarah Meisner beschäftigt. Darin schreibt Rabbi Jakov in der Einleitung zu diesem Text: »Eine Frage hinsichtlich der Frau, deren Mann, Simon Maisner, der aus unserer Ortschaft Nova Praga stammt, mit der Titanic gereist und ertrunken ist. Er hat eine junge Frau mit drei kleinen Kindern hinterlassen, ohne jeglichen Unterhalt. Die verzweifelte Frau hat mich angebettelt und angefleht, ihr zu erörtern, ob es ihr laut dem Gesetz der Tora gestattet sei, erneut zu heiraten.«
Rabbi Meskin fürchtete sich davor, eine alleinige Entscheidung in einem der komplexesten Gebiete der Halacha zu treffen und konsultierte seinen Mentor, Rabbi Jitzchak Jakov Rabbinowitz (1854–1919). Dieser eröffnet seine Auslegung damit, dass der Schulchan Aruch (Even HaEzer Siman 17) in einem Fall, wo ein Mensch in einem Gewässer ertrunken ist, zwischen zwei Szenarien differenziert: Wenn es sich um ein kleines und übersehbares Gewässer handelt, dann gehen wir davon aus, dass der Mensch gestorben ist und dessen Ehefrau die Wiederheirat gestattet ist. Wenn es sich jedoch um ein großes Gewässer handelt und man es nicht vollkommen überblicken kann, dann könne es sein, dass der Mann an einem anderen Ort angespült wurde und noch lebt.
Was ist jedoch, wenn der Mensch nicht ins Wasser gefallen, sondern möglicherweise im Bauch eines sinkenden Schiffes ertrunken ist? Hier ist der Mabit (Rabbi Mosche Ben Josef diTrani, 1505–1585) der Ansicht, dass die Wände des Schiffes wie die Grenzen eines kleinen Gewässers zu betrachten seien und man deshalb davon ausgehen kann, dass der Mann tot ist.
Rabbi Meskin schreibt: »Jeder weiß aus den Berichten der überlebenden Passagiere, dass die Titanic einen Eisberg rammte und das Wasser das Schiff sofort überflutete. Die Passagiere sind dort ertrunken, aber nicht ins Wasser gefallen … und er ist sicher nicht irgendwo aufgetaucht, sondern mit dem Schiff untergegangen …«
Und wann darf seine hinterbliebene Frau erneut heiraten?
Ein zweiter halachischer Anhaltspunkt war der Brief des russischen Konsuls an Sarah Maisner. Weil die Titanic unter britischer Flagge fuhr, oblag es den ausländischen Konsuln in Großbritannien, die Hinterbliebenen über den Tod ihrer Verwandten zu informieren. In besagtem Brief informiert der Diplomat Sarah Maisner offiziell über den Tod ihres Mannes und versichert ihr, sich für eine finanzielle Unterstützung für ihre Familie einzusetzen. Für Rabbi Meskin handelt es sich bei diesem Brief um eine amtliche Bestätigung seitens der Behörden, dass Simon Maisner gestorben ist. Aus halachischer Perspektive ist so ein Dokument für die Befreiung einer Aguna zugelassen.
Als ein drittes Argument wurde angesehen, dass heutzutage ein Ehemann, der auf wundersame Weise überlebt hätte, seine Familie per Eilpost informieren könnte. Die Abwesenheit eines solchen Lebenszeichens sei ein eindeutiger Beweis dafür, dass er nicht mehr am Leben ist.
Diese drei Argumente zusammengenommen waren für Rabbi Jakov Meskin ausreichend, um Simon Maisner halachisch für tot zu erklären und Sarah Maisner die Wiederheirat zu erlauben.
Dank dem Psak, der halachischen Entscheidung von Rabbi Jakov Meskin, konnte Sarah Maisner ein neues Leben beginnen. Ein Jahr nach dem Untergang der Titanic folgte sie tatsächlich dem Traum ihres verstorbenen Mannes und emigrierte in die USA, wo sie am 5. Oktober 1915 Jakob Glaser, ebenfalls ein Schneider aus dem russischen Kaiserreich, heiratete. Sarah Maisner lebte bis 1951 in New York und wurde auf dem Friedhof Mount Ararat begraben.
Der Autor ist Assistenz-Rabbiner der Gemeinde Kahal Adass Jisroel und Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin.