»Dialog lebt vom Unterschied«

Engagierte Gesprächspartner: der orthodoxe Rabbiner Julian-Chaim Soussan (l.) und der katholische Theologe Joachim Valentin Foto: Robert Schittko

Herr Rabbiner Soussan, Herr Professor Valentin – wir wollen über den Dialog zwischen der jüdischen und der christlich-katholischen Gemeinde sprechen, den ältesten Religionsgemeinschaften in Deutschland. Herr Soussan, Sie zitierten in unserem Vorgespräch einen Rabbiner, der gesagt habe, man könne im Dialog der Religionen über alles sprechen, außer über Theologie. Warum kann man nicht?
Soussan: Das war ein Zitat aus den 50er-Jahren, von Rabbiner Soloveitchik aus New York. Er antwortete auf die Frage, wozu so ein Dialog gut sei. Das Zitat besagt gewissermaßen: Solange man miteinander spricht, schießt man nicht aufeinander. Die Gefahr, die er gesehen hatte, war, dass es gar keinen Sinn macht, weil die Glaubensgrundsätze so anders sind. Das war aber in den 50er-Jahren.

Und da sind wir heute weiter?
Soussan: Ja, erst im November letzten Jahres haben sich die Deutsche Bischofskonferenz und die Orthodoxe Rabbinerkonferenz in Berlin getroffen und dabei auch sehr viel über Theologie geredet. Dann gab es 2015 ein Papier der orthodoxen Rabbiner …
Valentin: Ich wage es kaum auszusprechen, weil es mich so berührt: Die Rabbiner sagen darin, das Christentum sei Teil des göttlichen Heilsplans und dass mit Pfingsten die Universalisierung des jüdischen Glaubens durch die frühen Christen anfängt.

Können Sie das einordnen, Herr Soussan? Welches Gewicht hat das Papier?
Soussan: Es wurde von Shlomo Riskin aus Israel initiiert und von dem deutschen Rabbiner Jehoschua Ahrens maßgeblich choreografiert. Rund 50 orthodoxe Rabbiner haben es unterschrieben. Das ging inhaltlich etwas weiter als eine parallel entstandene Stellungnahme, die auf größerer Grundlage stand: das Papier »Zwischen Jerusalem und Rom«. Es wurde als erste rabbinische Stellungnahme zum Christentum maßgeblich von Rabbiner Arie Folger geschrieben. Das war wichtig, weil die drei führenden orthodoxen Rabbinergremien unterschrieben haben – die europäische, die amerikanische Rabbinerkonferenz und auch das Oberrabbinat von Israel. Sie haben deutlich gemacht, dass das Christentum von Gott sinngestiftet war und auch die Grundidee des Judentums in der Welt verbreitet hat.

Jesus Christus sagt: Alles Heil kommt von den Juden.
Soussan: »Hallewai« – sinngemäß heißt das, möge G’tt geben, dass es so sei …
Valentin: Ja, im vierten Kapitel des Johannes-Evangeliums, aber er sagt es zu einer nichtjüdischen, samaritanischen Frau. Jedenfalls empfinde ich diese rabbinischen Schreiben als großartig. Ich bewundere es, dass die Rabbiner wenige Jahre nach der Schoa schon bereit sind, fast 2000 Jahre Verfolgungsgeschichte einzuklammern oder doch immerhin zu sagen: »Wenn ihr so auf uns zugeht, dann gehen wir auch auf euch zu.« Aber es ist für die Kirchen auch eine Herausforderung und vertrauensvolle Aussage.
Soussan: Es ist eine Riesenstütze für alle, die diesen Dialog vorangetrieben haben, aber auch eine Festlegung. Man kann hinter diesen Punkt eigentlich nicht mehr zurück.
Valentin: Spätestens seit der Veröffentlichung des vatikanischen Konzilstextes »Nostra Aetate« 1965 ist es so, dass sich das Christentum ohne eine gute Kenntnis des Judentums nicht verstehen lässt – aber auch nicht ohne Kenntnisse des rabbinischen, nach-jesuanischen Judentums, das sich parallel mit dem Christentum entwickelt hat. Wir Katholiken haben uns neu an den Paulussatz erinnert: »Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich« (Römer 11,18). Wir verstehen diese frühchristliche »jüdische Sekte«, die damals im Entstehen war, neu als aufgepfropfte Zweige auf dem Ölbaum Judentum. Wir Christen wissen also nicht, wer wir sind, wenn wir nicht wissen, was in der jüdischen Bibel steht.

Jetzt sind wir mittendrin in theologischen Fragen.
Valentin: Ja. Und weiter: Wir müssen auch die im Ursprung jüdischen Feste, die wir als Ostern oder Pfingsten gewissermaßen adaptiv feiern, neu verstehen. Das Christentum, das sich über Jahrhunderte unter Abzug des Jüdischen auf der Basis von dezidiert antijüdischen Kirchenvätern definiert hat, war ein defizientes Christentum. Darauf stoßen wir erst jetzt, in unserer Zeit. Wenn man verstanden hätte, dass man selbst divers ist, wäre man auch anders mit Andersgläubigen umgegangen.

Ist ein Sinn des Dialogs für uns Katholiken also, Defizite in unserem Selbstbild zu heilen?
Valentin: Ja, aber eine dialogfähige Haltung braucht es natürlich auch, damit das Miteinander der Religionen in einer Stadt wie Frankfurt gelingt. Und selbstverständlich ist sie unerlässlich nach der Schoa, die uns Katholiken gezeigt hat: Wir sind vor allem Teil des Problems, nicht der Lösung.
Soussan: Fast 2000 Jahre gab es im Christentum die Idee der Substitution – dass die Kirche über Jesus den Bund Gottes mit Israel ersetzt und fortführt. Demnach seien die Juden verloren, verstoßen, vertrieben. Diese Idee ist natürlich aus jüdischer Sicht nicht heilbar. Das aber hat sich durch den Konzilstext »Nostra Aetate« geändert. Seitdem stellt das Judentum für Katholiken eine legitime andere Sichtweise dar.

Bleibt aber die Tatsache, dass das Judentum früher war und damit gewissermaßen kein so naheliegendes Interesse am Dialog mit dem Christentum hat?
Soussan: Ja, es gibt ein gewisses Gefälle. Das Judentum existiert auch ohne das Christentum.

Warum sollten sich Gemeindemitglieder für die andere Religion interessieren? Herr Valentin, denken Sie zum Beispiel an einen katholischen Schreiner, der nicht Latein spricht, nie von »Nostra Aetate« gehört hat und vom Judentum auch nur wenig?
Valentin: Deswegen, weil die spirituelle Kraft, die sich aus den Texten der jüdischen Bibel ergibt – vor allem aus den Psalmen –, immens ist. Wenn ich diese Psalmen, die in jedem Gottesdienst vorkommen, bete, muss ich auch verstehen, wer dieser jüdische Beter war, der sie vor Tausenden Jahren gebetet hat.

Und warum soll sich eine Kindergärtnerin der jüdischen Gemeinde für das Christentum interessieren?
Soussan: Eine jüdische?

Ja.
Soussan: Weil es um das Miteinander-Auskommen geht. Wir leben in einer christlichen Mehrheitsgesellschaft. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, im Kindergarten und in der Schule wurden Weihnachtslieder gesungen und Ostereier bemalt. Das Christentum umgibt uns und gibt die Norm(alität) vor. Historisch können wir auch erinnern, dass es gerade im 19. Jahrhundert sehr viele Übertritte vom Judentum zum Christentum gab. Häufig aus sozialen Gründen, weil man dazugehören wollte, aber auch deswegen, weil man meinte, mit der Moderne sei das Christentum kompatibler. Überdies hilft es der Selbstreflexion, zu wissen: Worin bestehen zu einer so ähnlichen Schwesterreligion genau die Unterschiede? Das hilft, sich selbst besser zu verstehen.

Gibt es dabei Gefahren? Zum Beispiel den Verlust religiöser Identität?
Soussan: Wenn man es falsch macht, bestimmt. So habe ich es als Jugendlicher wahrgenommen. Das man immer hinging und sagte, wir sind doch so ähnlich, wir haben doch die gleiche Bibel und die gleichen Grundsätze: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dabei lebt der Dialog gerade davon, die Unterschiede aufzuzeigen.
Valentin: Die orthodoxen Rabbiner Julian-Chaim Soussan und Jehoschua Ahrens sind regelmäßig im Frankfurter »Haus am Dom«, dem von mir geleiteten Kulturzentrum, und halten Vorträge über rabbinische Perspektiven. Das ist für mich, der sich nicht wenig auch mit jüdischer Theologie befasst hat, jedes Mal eine Horizonterweiterung. Die jüdische Auslegungstradition basiert stark auf der körperlichen Form der Buchstaben, auf dem daraus resultierenden Zahlensystem. Da gibt es oft überhaupt keine Übereinstimmung mit der christlichen Exegese. Das heißt nicht, dass sie nicht mit der abendländischen Tradition kompatibel wäre, im Gegenteil, hier finden wir vielleicht die erste humane Ethik überhaupt. Das hat die Aufklärung zum Glück wiederentdeckt, aber da haben Sie nur die Spitze des Eisberges dessen, was ich vom rabbinischen Judentum nach und nach kennenlerne.

Haben Sie frustrierende Erinnerungen an völlig misslungene Dialoge?
Soussan: Eigentlich nicht, aber auf jüdischer Seite ist es nicht einfach, die negativen historischen Erfahrungen abzuschütteln. Im Gesprächskreis Juden und Christen, wo über Jahre viel Vertrauen gewachsen ist, hat Edna Brocke einmal gesagt: Wenn wir alles wegnehmen, was wir uns über Jahre erzählen – wie kann ich am Ende als Jüdin doch sicher sein, dass ihr nicht eigentlich doch wollt, dass ich Christin werde? Wie kann man von der eigenen Religion und deren Wahrheit überzeugt sein, ohne sich zu wünschen, dass alle anderen diese Religion auch annehmen? Im Judentum ist das selbstverständlich, da Jüdischsein keine Voraussetzung dafür ist, Anteil an der kommenden Welt zu haben. Christlich ist das Nichtmissionieren von Juden eine Neuerung.
Valentin: Ich denke an einen Kirchentag, wo man als Schlusstext die Sintflut-Erzählung wählen, also den alttestamentlich-zornigen Gott aufrufen wollte, der vom »lieben Gott« Jesu abgelöst worden sein soll. Dabei ist die Sintflut in jüdischer und christlicher Tradition vom Regenbogen her zu verstehen, vom Versprechen Gottes, seine Schöpfung nie wieder zu vernichten.

Interessanterweise erwähnen Sie eine Kränkung, die Sie von »eigener Seite« erfahren haben, eine christliche Predigt.
Valentin: Ja, klar. Die Front derer, die auf christlicher Seite Dialog führen, wird gerne auch als eine wahrgenommen, die sich gegen die eigene Kirche richtet. Das liegt aber auch daran, dass die jüdische Tradition in der Ausbildung von Theologen eine zu geringe Rolle spielt.

Gibt es nicht immer eine Gefahr von gegenseitiger Kränkung?
Soussan: Die meisten, die im Dialog mitwirken, gehen meist rücksichtsvoll und auch verständig miteinander um. Aber selbst hier schleichen sich ab und an »Klassiker« ein. Enervierender hingegen ist das Wiederholen alter Klischees und tradierter Vorurteile in der Allgemeingesellschaft, die sich hartnäckig halten. Dagegen kann man sich den Mund fusselig reden, das Internet ist voll davon.

Und immer wieder gab es doch auch bedeutende Brückenbauer, die das dekons­truiert haben, die Übersetzungsfehler thematisiert haben, wie der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide …
Soussan: Ja, immer wieder, selbstverständlich. Vor allem in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war der Dialog von jüdischer Seite dabei sehr stark dominiert von der liberaleren Ausrichtung.

Die Orthodoxie hat sich herausgehalten?
Soussan: Ja. Wegen des großen Misstrauens aus der Geschichte heraus. Das hört man heute noch manchmal: Warum macht ihr das? Vertraut ihr denen?

Das klingt alles sehr anstrengend.
Valentin: Für mich jedenfalls bedeutet es neben der Herausforderung auch ein großes Geschenk. Weil die Andersheit des anderen nie ganz eingeholt ist, auch wenn man durch einen falschen Zungenschlag immer wieder ins Fettnäpfchen treten kann. Denn auch für jemanden wie mich ist die Eingebackenheit oder Zementiertheit der christlichen Identität von einer jüdischen Exegese immer wieder neu herausgefordert. Es kann nie ganz ausgeschlossen werden, dass es auf der anderen Seite zu einer neuen Kränkung kommt.

Mit dem orthodoxen Rabbiner und dem Professor für Christliche Religions- und Kulturtheorie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main sprach Jan Grossarth.

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