Vergangene Woche veröffentlichten rund 100 Rabbiner in Israel einen gemeinsamen Brief, in dem sie die Regierung aufforderten, den Geiseldeal mit der Hamas zu stoppen. Ihr Argument: Er würde die Sicherheit Israels torpedieren.
Die religiös-zionistischen Rabbiner der »Torat Haaretz HaTova«, von denen einige der Siedlerbewegung angehören, betonten zwar, dass es eine heilige Verpflichtung sei, Geiseln zu befreien – aber eben nicht auf Kosten der Sicherheit des israelischen Volkes: »Die Freilassung gefährlicher Terroristen, der Rückzug aus strategisch wichtigen Gebieten oder ein Waffenstillstand, ehe man den Feind vernichtet hat, gefährden die Zukunft des Staates und die Sicherheit seiner Bürger.«
Die Rabbiner beriefen sich auf die Aussage einer religiös-zionistischen Legende, Rabbi Shaul Yisraeli, Schüler von Abraham Isaak Kook, der sagte: »Es gibt kein göttliches Gesetz, das die Gefährdung des Lebens der gesamten jüdischen Gemeinschaft rechtfertigt.«
Für oder gegen ein solches Abkommen argumentieren
Dass sich Rabbiner auch zu politischen Angelegenheiten äußern, ist in Israel nicht ungewöhnlich. Zumal die Frage, zu welchem Preis jüdische Gefangene ausgelöst werden dürfen und sollten, bereits die ethischen Debatten von Rabbinern viele Jahrhunderte vor der Staatsgründung bestimmten. Es gibt also eine Menge Quellen, auf die sich moderne Gelehrte verschiedenster Strömungen beziehen können, um für oder gegen ein solches Abkommen zu argumentieren.
Erst im September sorgte der ehemalige sefardische Oberrabbiner Yitzhak Yosef für Aufsehen, als er auf der Beerdigung eines in Geiselhaft Ermordeten forderte: »Wir müssen alles tun, um die verbliebenen Geiseln zu befreien, einschließlich der Freilassung Hunderter und Tausender Terroristen mit Blut an den Händen. Laut der Halacha müssen sie freigelassen werden, um alle Geiseln zurückzubringen, die noch übrig sind.«
Sofort reagierte der in Israel als rechtsextremer Politiker bekannte Chabad-Rabbiner Shalom Dov Wolpo mit einem Brief, in dem er vehement widersprach: »Der Deal ist laut der Halacha verboten!« Es bestehe kein Zweifel daran, dass die Befreiung von Gefangenen sehr edel sei. »Die Frage ist jedoch: Ist es zulässig, eine Geisel freizulassen, und dadurch Tausende mörderischer Terroristen?« Die Erfahrung zeige zweifellos, dass jedes Mal, wenn Terroristen freigelassen wurden, sie erneut mit der Ermordung von Juden begannen.
Schon beim Gefangenentausch für Gilad Schalit 2011 waren sich die Rabbiner uneins.
Wie zum Beweis, dass seine Meinung keiner politischen Laune entspringe, fügte der Chabad-Rabbiner das Foto eines Faxes hinzu, das er bereits 2009 an Yitzhak Yosefs Vater, den ehemaligen Oberrabbiner Ovadia Yosef, gesendet hatte: Darin fleht er den Rabbiner an, einen Geiseldeal für Gilad Schalit zu verhindern. Der israelische Soldat war 2006 von der Hamas entführt und über fünf Jahre gefangen gehalten worden. Schließlich wurde er gegen 1027 palästinensische Häftlinge »ausgetauscht«. Unter den Freigelassenen war zu jener Zeit auch Yahya Sinwar – der spätere Hamas-Chef und Planer des 7. Oktober 2023. Wenn man so will, wurde wahr, wovor Rabbiner Shalom Dov Wolpo gewarnt hatte.
Oberrabbiner Ovadia Yosef hatte sich nicht umstimmen lassen. Seine Meinung hatte er schon Jahrzehnte vorher gebildet und begründet: 1976 baten Angehörige der Geiseln der Flugzeugentführung in Entebbe ihn um eine halachische Einschätzung. Daraufhin verfasste der Oberrabbiner eine umfassende Antwort, die hier nur in Ansätzen dargestellt werden kann. Er beginnt mit dem Argument, dass ein solcher Austausch nicht das jüdische Verbot verletze, eine Person zu opfern, um eine andere zu retten.
Eine Rettungshandlung und kein Akt der Kollaboration mit Übeltätern
Selbst wenn die freigelassenen Terroristen weitere Gewalttaten verüben würden, sei der Austausch selbst eine Rettungshandlung und kein Akt der Kollaboration mit Übeltätern. Später zeigt er auf, dass schon im Mittelalter, als Juden häufig gefangen genommen wurden, um Lösegeld freizupressen, die Rabbiner die Frage umtrieb, ob man die enormen Summen aufgrund des Gebotes der Nächstenliebe zahlen solle, oder die Entführer so motiviere, immer weiterzumachen.
So heißt es im Schulchan Aruch (16. Jhd.) zum Beispiel: »Jeder Moment, in dem man die Auslösung von Gefangenen verzögert, obwohl sie früher hätte erfolgen können, ist einem Blutvergießen gleichzusetzen.« Aber gleich danach: »Gefangene dürfen nicht für mehr als ihren Wert ausgelöst werden.«
Rabbi Yosef argumentiert hier, dass Terroristen – im Gegensatz zu den rein profitmotivierten Entführern des Mittelalters – ohnehin jede Gelegenheit nutzen, um Geiseln zu nehmen, zu töten und das Leben in Israel zu stören. Die Logik der Mischna, die darauf abzielt, die Nachfrage nach Lösegeld zu kontrollieren, greife daher nicht in dieser Situation.
Vielleicht ist am Ende wahr, was kürzlich die Rabbinerorganisation Tzohar zum Geiseldeal in Israel erklärte: »Es handelt sich um ein komplexes und vielschichtiges Dilemma, bei dem zahlreiche Erwägungen für und wider abgewogen werden müssen. Angesichts dieser Herausforderungen sollte man anerkennen, dass es möglich ist, ein halachisches Argument für beide Seiten der Debatte zu präsentieren.«