Was lehrt uns das aktuelle Geiseldrama? Die Emotionen im Zusammenhang mit der Verschleppung von rund 240 Israelis sowie Bürgern anderer Länder durch die Terrororganisation Hamas sind heftig. Denn die Geschichten der Eltern, die ihre Kinder vermissen, des Mannes, der versucht, seine als Geisel genommene Familie zu befreien, und der Kinder, die nicht wissen, ob ihre Eltern noch leben, erschüttern auch nicht direkt Betroffene.
Ende vergangener Woche begann schließlich der Austausch von zunächst Dutzenden der israelischen Geiseln gegen mehrere Hundert weibliche und jugendliche palästinensische Terroristen, die in israelischen Gefängnissen sitzen. Aber ist das verhältnismäßig?
Das Instrument der Geiselnahme hat eine lange Geschichte. Bereits den Römern diente es als Taktik zur Befriedung eroberter Provinzen. Kinder von unterworfenen Stämmen wurden in Rom festgehalten, um ihre Familien daran zu hindern, gegen die Römer zu rebellieren.
Gefangene sollen nicht »über ihren Wert« freigekauft werden. Gilt das auch heute noch?
Heute gilt – zumindest offiziell – in fast allen zivilisierten Ländern der Grundsatz, dass man mit Terroristen auf keinen Fall verhandeln sollte. Nach jüdischem Recht ist eine Geiselnahme jedoch keine Regierungs-, sondern eine halachische Angelegenheit. Der Schulchan Aruch widmet dem Pidjon Schewuim – der Befreiung von Gefangenen und Geiseln – sogar ein eigenes Kapitel. So heißt es darin, es sei eine religiöse Pflicht, mit Geiselnehmern zu verhandeln: »Jede Sekunde, die ungenutzt bleibt, um Gefangene freizukaufen, wird als potenzielles Blutvergießen angesehen.«
Gefangene freizubekommen, ist ein Befehl der höchsten Ordnung, berichtet der Talmud. Das für den Bau einer Synagoge gesammelte Geld kann, trotz des generellen Verbots, diese finanziellen Mittel anderweitig zu verwenden, durchaus zum Freikauf von Geiseln eingesetzt werden. Dasselbe gilt übrigens für Personen, die von den Behörden wegen falscher Anschuldigungen festgehalten werden. Rabbi Mosche Feinstein, der 1936 aus Russland fliehen musste, fügt hinzu, dass diese Bestimmungen auch heute noch in »zivilisierten Ländern« gelten.
Die hohe Relevanz der Regeln in Bezug auf Geiseln innerhalb des jüdischen Rechtskanons erklärt sich aus der akuten Lebensgefahr, in der sich diese zumeist befinden. In der jüdischen Exilgeschichte gibt es viele prominente Beispiele von Geiselnahmen. So wurden im Mittelalter Juden nicht selten auf See von Piraten angegriffen und anschließend als Sklaven zum Verkauf angeboten. Die jüdische Gemeinde in Alexandria belegte deshalb ihre wohlhabenderen Mitglieder mit einer Sondersteuer, um über finanzielle Mittel zum Freikauf von Gefangenen zu verfügen.
Das jüdische Volk hat gelernt, mit den Tragödien von Geiselnahmen zu leben
Das jüdische Volk hat gelernt, mit den Tragödien von Geiselnahmen zu leben. Manchmal waren dafür auch religiöse Motive ausschlaggebend. Wenn verschleppte Jüdinnen und Juden nicht zum Christentum oder Islam konvertierten, wurden sie oftmals getötet. Der häufigste Grund aber war finanzieller Natur, so wie im Fall von Rabbi Meir aus Rothenburg (1230–1293). Dieser weltberühmte Gelehrte wollte nach Israel auswandern, weil er die vielen Verfolgungen nicht länger erdulden wollte. Unterwegs wurde er aber von Soldaten des deutschen Kaisers verhaftet, die befürchteten, dass weitere Juden dem Beispiel von Rabbi Meir folgen würden. Der Kaiser wollte nicht, dass Juden seinem Land den Rücken zukehrten; sie sollten bleiben, um Reichtümer für ihn zu erwirtschaften.
Rabbi Meir aus Rothenburg wurde schließlich auf Schloss Ensisheim im Elsass als Geisel festgehalten. Die Juden boten ein beträchtliches Lösegeld, um ihren geliebten Lehrer aus dem Kerker zu befreien, und zwar 20.000 Goldmark. Rabbi Meir war aber gegen diese Art der Auslösung, weil er befürchtete, dass der Kaiser dann auf die Idee käme, weitere prominente Juden einzusperren, um sich noch mehr Lösegeld zu sichern – ein vielversprechendes Geschäftsmodell. So blieb Rabbi Meir bis zu seinem Tod im Kerker. 14 Jahre danach wurde sein Körper von Süßkind Wimpfen aus Frankfurt freigekauft.
In keinem modernen Staat gibt es konkrete Gesetze, wie mit Geiselnahmen umzugehen ist. Die Prinzipien einer jüdischen Herangehensweise an das Problem wurden jedoch bereits 195 n.d.Z. festgelegt und von Rabbi Jehuda Hanassi in der Mischna, der jüdischen Lehre der Praxis, schriftlich fixiert. Das eigene Leben hat demnach immer Vorrang, sodass man das Recht hat, sich zuerst freizukaufen. Auch Eltern oder jüdische Lehrer sollten nicht ausgespart bleiben. Weibliche Kriegsgefangene werden zunächst aus Angst vor sexuellem Missbrauch ausgelöst. Sollte ein Mann seine Frau nicht freikaufen wollen, wird er vom Beit Din, dem Rabbinergericht, dazu gezwungen. Bleibt er dennoch untätig, kann sein Besitz versteigert werden.
Der Talmud fragt nach dem Grund für diese Bestimmung: »Was bedeutet das Allgemeinwohl?«
Aktueller, und auch für die Verhandlungen mit der Hamas direkt relevant, ist die folgende Leitlinie aus der Mischna: »Gefangene dürfen nicht über ihren Wert hinaus mit Blick auf das Gemeinwohl befreit werden« (Gittin 4,6). Der Talmud fragt nach dem Grund für diese Bestimmung: »Was bedeutet das Allgemeinwohl?« Er gibt zwei Interpretationen, und zwar erstens: Für die Gemeinschaft darf es kein zu großes finanzielles Opfer sein, Lösegeld zu bezahlen. Zweitens sollte so verhindert werden, dass die Zahlung eines zu hohen Lösegelds für die Entführer einen Anreiz darstellt, erneut Geiseln zu nehmen.
Diese Regeln wurden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zitiert. Allerdings waren die Rahmenbedingungen oft zu kompliziert, um sie pauschal anwenden zu können. Denn was genau bedeutet »zu hohes Lösegeld«? Und gilt die Regel der Mischna auch, wenn den Geiseln der Tod droht? Diese Fragen werden von mittelalterlichen Gelehrten und späteren Gelehrten stets aufs Neue diskutiert. Dabei ging es immer darum, kollektive Verantwortung und Sicherheit gegen die individuellen Interessen abzuwägen.
Die Mischna gibt einen Hinweis zu der möglichen Höhe eines Lösegelds, und zwar darf es: »nicht mehr als ihr Wert« sein. Das aber führte zu unterschiedlichen Interpretationen. Maharam Lublin (1558–1616) war der Meinung, dass sich die Mischna auf den Wert eines Mannes bezieht, der als Sklave verkauft wird. Er argumentiert, dass es in Polen damals aber keine Sklavenmärkte mehr gab und dieses Kriterium deshalb unpräzise sei. Aber er bezieht sich auf Sklavenmärkte in der muslimischen Welt, wo man den Wert eines Sklaven durchaus bestimmen könnte.
Andere, wie Radbaz (1480–1573), glaubten, dass man sich am »üblichen Lösegeld einer christlichen Geisel« orientieren sollte. Demnach wäre beispielsweise ein Austausch von mehr als palästinensischen 400 Gefangenen gegen drei tote Israelis (wie 2004 geschehen) völlig absurd. 2006 kamen für den nach Gaza entführten Soldaten Gilad Schalit mehr als 1000 palästinensische Häftlinge frei. Einige Rabbiner fanden damals, dass der Preis zu hoch war.
Zudem decke die Mischna-Regelung nur Freikäufe gegen Bargeld ab. Die Freilassung von Terroristen dagegen sei zu »teuer«, weil dies die Gefahr mit sich bringe, dass diese erneut mörderische Aktionen planen. Der Austausch von 400 Terroristen gegen drei lebende Israelis wäre demnach ebenfalls unverhältnismäßig. Zudem dürfe Israel es nicht zulassen, dass seine Achillesferse – der Wert, den das jüdische Volk dem Leben auch nur einer Person beimisst – auf Kosten seiner nationalen Sicherheit geht.
Die eigentliche Frage ist, ob die Bestimmung der Mischna, die vorsieht, dass Geiseln nicht über ihren Wert hinaus freigekauft werden dürfen, in allen Situationen gilt
Die eigentliche Frage jedoch lautet, ob die Bestimmung der Mischna, die vorsieht, dass Geiseln nicht über ihren Wert hinaus freigekauft werden dürfen, in allen Situationen gilt. Das erste Argument für diese Bestimmung lautet schließlich, dass die Gemeinschaft kein zu großes Opfer bringen solle. Dieser Grund ist derzeit nicht relevant, weil es um den Austausch von Menschen gegen Menschen geht. Das zweite Argument, dass die Gelehrten der Mischna aufführen, lautet, dass zukünftige Geiselnahmen verhindert werden müssen. In Kriegssituationen gilt dieser Grundsatz aber nicht.
Die mittelalterlichen Tosafisten erwähnen diese letzte Idee bereits in ihrem Kommentar zum Talmud, wo es heißt, dass Rabbi Jehoschua ben Chanania einst ein Kind von Kriegsgefangenen in der Hand der Römer für einen exorbitant hohen Preis freigekauft hatte. Die Tosafisten billigten Rabbi Jehoschuas Aktionen – wenn auch im Gegensatz zu den Mischnaregeln –, weil sich Jerusalem und Rom damals im Kriegszustand befanden. Gefangene auf beiden Seiten sind in einer solchen Situation normal, und ihr Austausch ist keine Frage von Lösegeldforderungen.
Leider befindet sich Israel in einem permanenten Kriegszustand. In der Mischna ist aber von Situationen in relativer Ruhe die Rede. Im Kriegsfall ist diese Regel der Mischna also nicht anwendbar, und Kriegsgefangene könnten nach Ansicht der Tosafisten auch in einem ungleichen Verhältnis ausgetauscht werden.
Auch Rabbi Chaïm Chizkia Medini ist der Meinung, dass das Leben »unserer Jungen« schwer wiegen muss. In der gegenwärtigen israelischen Realität ist der Austausch eines einzigen Israelis gegen womöglich mehrere Hundert Terroristen nicht unbedingt absurd. Die akute Gefahr für das Leben eines Menschen überwiegt eine nur potenzielle Bedrohung der nationalen Sicherheit. Rabbi Medini veröffentlicht in seinem Lexikon auch einen Brief seines Freundes Nachum Schächter aus Koretz, der im Detail zeigt, dass die Regelung aus der Mischna von der Obergrenze, die »nicht über ihrem Wert« ausfallen darf, genau für lebensbedrohliche Situationen geschrieben ist. Denn jeder Kriegsgefangene läuft Gefahr, sein Leben zu verlieren, was in der Tat der Ausgangspunkt des Talmuds ist.
Jede Geisel in Gaza ist grundsätzlich in Lebensgefahr. Und es bleibt abzuwarten, ob die Freilassung von Hunderten von potenziellen Terroristen eine Belastung für die Sicherheit Israels darstellen wird
Doch realistisch betrachtet, ist das Reservoir an Terroristen, aus dem die Hamas schöpfen kann, ohnehin sehr groß – ungeachtet der aktuellen Frage der Freilassung weiterer palästinensischer Terroristen aus israelischen Gefängnissen. Vielleicht auch deshalb haben die führenden Rabbiner Israels dem aktuellen Austausch von israelischen Geiseln in Gaza gegen palästinensische Gefangene nicht widersprochen – wobei bei einzelnen Rabbinern aber auch durchaus andere Ansichten zu hören waren.
Der Autor ist Rabbiner und lebt in Israel.