Im Wochenabschnitt Re’eh erfahren wir von einer Vielzahl von Ge- und Verboten, die mit dem Tempelberg in Jerusalem verbunden sind. Eines der Gesetze, von dem wir am Anfang der Parascha lesen, ist das Verbot, Tieropfer außerhalb des dafür vorgesehenen Ortes – des Tempels – zu erbringen. So heißt es: »Nur an dem Ort, den der Ewige, euer G’tt, erwählen wird, Seinen Namen dort thronen zu lassen, bringt alles, was ich von euch verlange« (5. Buch Mose 11,11).
Spannend ist, dass dabei der Tempelberg in Jerusalem nicht namentlich erwähnt wird. Tatsächlich kommt Jerusalem kein einiges Mal in der Tora vor, stattdessen wird immer nur, und zwar insgesamt 21 Mal, von »dem Ort« gesprochen, »den der Ewige, euer G’tt, erwählen wird, Seinen Namen dort thronen zu lassen«.
Bevor der Tempel in Jerusalem errichtet wurde, waren Opfergaben auch an anderen Orten legitim
Wieso verrät G’tt uns nicht, welchen Ort Er auswählen wird? Zwei Antworten dazu sind möglich. Einerseits wäre zu dem Zeitpunkt, als G’tt die Tora offenbart hat, eine alternative Zukunft möglich gewesen, in der eine andere Stadt zum Standort des Tempels geworden wäre. Andererseits waren Opfergaben, bevor der Tempel in Jerusalem errichtet wurde, auch an anderen Orten legitim, zum Beispiel am Stiftszelt in Schilo. Die Tora benutzt daher absichtlich eine Sprache, die auch die anderen Orte mit einschließt.
Beide Antworten sind trotzdem unbefriedigend. Denn zum einen glaubt man in der jüdischen Tradition, dass Jerusalem seit Anbeginn der Zeit dazu auserkoren war, der zentrale Ort der Geschichte zu werden. Jerusalem war der erste Ort der Erde, der erschaffen wurde. Dort hätte Awraham auch beinahe seinen Sohn Jizchak geopfert. Der Talmud (Kidduschin 49b) sagt bekanntermaßen, dass G’tt zum Zeitpunkt der Schöpfung die (spirituelle) Schönheit erschuf und in zehn Teile auseinanderdividierte. Neun davon gingen nach Jerusalem und einer an den Rest der Welt. Das bedeutet: Die Stadt war nicht nur irgendeine von vielen, die als Standort für den heiligsten Ort der Erde infrage kamen, sondern die einzige Option überhaupt.
Was die zweite Erklärung betrifft: Diese scheint deutlich plausibler. Allerdings sind alle Orte, an denen das Stiftszelt vor dem Bau des Ersten Tempels stand, nicht wirklich der »Ort, den der Herr, euer G’tt, erwählen wird, Seinen Namen dort thronen zu lassen«. Es handelte sich bei ihnen eher um ein Provisorium, das nötig war, weil Jerusalem selbst sich noch nicht in israelitischer Hand befand.
Was ist also der wahre Grund dafür, dass Jerusalem nicht namentlich erwähnt wird? Der Midrasch (Sifrei Dewarim) liefert eine spannende Erklärung, die eine tiefe Botschaft in sich trägt: »G’tt hat uns über den konkreten Ort nicht informiert, damit wir nach dem Ort suchen!« An dieser Stelle müssen wir uns eine andere Stelle in der Tora vor Augen halten, in der der Ort ebenfalls nicht spezifiziert wird. Es ist die, die davon erzählt, wie sich G’tt das erste Mal Awraham offenbarte und ihm auftrug, nach Israel zu gehen. Das geschah mit den Worten: »Geh in das Land, das ich dir zeigen werde!« (1. Buch Mose 12,1).
Wenn wir das Ziel nicht kennen, müssen wir es im Gebet oder mit der Kraft unseres Willens suchen
Auch hier wird das Land nicht namentlich genannt. Der Kommentator Raschi (1040–1105) meint, es sei nicht genannt worden, um Awrahams Lohn zu erhöhen – schließlich folgte er G’tt, ohne zu wissen, wohin die Reise genau geht. Wenn G’tt uns also nicht explizit über das Ziel aufklärt, dann ist dies aus Sicht der Tora der Beginn einer unglaublichen Erfolgsgeschichte. Denn wenn wir wissen, dass es ein Ziel gibt, es aber nicht kennen, so bleibt uns keine andere Wahl, als dieses im Gebet oder mit der Kraft unseres Willens sowie mit Tat und Gedanken zu suchen. Und umso erhabener das Ziel ist, desto verborgener bleibt es. Jerusalem und Israel bleiben in der Tora so lange unentdeckt, wie wir nach langer, vor allem innerer Reise nicht von selbst darauf kommen.
Dieses Konzept lässt sich auch auf unser Leben anwenden. Schließlich hat jeder Mensch das Bedürfnis, seine persönliche Bestimmung, seine individuelle Lebensaufgabe zu kennen. Das Verlangen nach Sinnfindung ist also groß. All das bleibt aber so lange ein Geheimnis, bis man intensiv danach zu suchen beginnt. Und dies ist nur eines von zahlreichen Beispielen, auf die sich diese Lehre anwenden lässt.
Wenn man das Bedürfnis verspürt, die Schichten des Verborgenen freizulegen, und sich auf die Suche nach Antworten begibt, dann merkt man schnell, dass dies ein Weg G’ttes ist, uns zu sagen: Grab weiter, such weiter, du kannst sie haben! Auch die jüdische Mystik erklärt: Wenn wir für etwas beten, G’tt von ganzem Herzen darum bitten und danach schmachten, so bauen wir ein spirituelles Gefäß auf, das in der Lage ist, den Segen aufzunehmen. Jedes Gebet lässt dieses Gefäß wachsen und stärker werden. Wenn aber ein Segen eintritt, ohne dass das Gefäß bereit ist, dann bringt dieser eher negative Konsequenzen mit sich.
So lesen wir im Talmud (Hagiga 14b) von vier Weisen, die – wahrscheinlich während einer Meditation – den Pardes, also eine spirituelle Welt, bereits zu Lebzeiten betraten. Dabei starb einer von ihnen, ein anderer verlor seinen Verstand und einen Dritten verließ der Glaube an G’tt. Allein Rabbi Akiva konnte in Frieden in den Pardes eintreten und kam ebenso auch wieder heraus. Der Talmud lehrt hier, dass nur Einzelpersonen intensive außerkörperliche Erfahrungen machen können, ohne Schaden zu nehmen.
Rabbi Akiva stammte aus einer Familie von armen Konvertiten
Warum war aber gerade Rabbi Akiva erfolgreich? Der Jerusalemer Rabbiner Schalom Arusch erklärt in seinem Buch BeGan HaEmuna (Im Garten des Glaubens), dass Rabbi Akiva bekanntermaßen aus einer Familie von armen Konvertiten stammte und bis zum 40. Lebensjahr ein Hirte und Analphabet war. Weil er die schwierigsten Grundvoraussetzungen mit sich brachte, musste er am meisten beten und auf G’tt vertrauen. Seine Gefäße waren dementsprechend am weitesten entwickelt, und im Moment der Wahrheit blieb er als Einziger unbeschädigt.
So wie es Rabbi Akiva mit der Erkenntnis des G’ttlichen im Pardes sowie Awraham mit Israel und den Israeliten aus unserem Wochenabschnitt mit Jerusalem erging: Ein Ziel existiert. Man weiß, es ist da, aber trotzdem unklar, nicht definiert und erst einmal verborgen – so geht es jedem von uns mit seinen ganz persönlichen Zielen. Die Tora nennt uns dazu die richtigen Mittel: beten und niemals aufgeben!
Der Autor ist Religionslehrer und Sozialarbeiter der Jüdischen Gemeinde Osnabrück.
inhalt
Der Wochenabschnitt Re’eh beginnt mit den Worten, die Mosche an das Volk richtet: »Siehe, Ich lege heute vor euch Segen und Fluch!« Den Segen erhalten die Bnei Israel, wenn sie auf die Gebote G’ttes hören. Der Fluch wird über sie kommen, wenn sie sich nicht entsprechend verhalten und sich fremden Götzen zuwenden. Bei den nachfolgenden Ritualgesetzen geht es um die Errichtung eines zentralen Heiligtums, um Schlachtopfer, die Entrichtung des Zehnten (Ma’aser) und um die Erfüllung von Gelübden (Neder). Dann folgen die Speisegesetze, und zum Schluss werden die Regeln für das Schabbatjahr beschrieben und die Feiertage Pessach, Schawuot und Sukkot sowie die damit verbundenen Vorschriften erwähnt.
5. Buch Mose 11,26 – 16,1