Es war Hillel, nicht Herodes, der das wahre Königreich der Juden wiederherstellte – das Königreich der Tora, des edlen Charakters, der Geduld, der Güte und der Freundlichkeit. Denn zur selben Zeit, als der mörderische und wahnsinnige Herodes als Klientelkönig der Römer an die Macht kam, schenkte Gott dem jüdischen Volk einen Mann, dessen Güte das Böse von Herodes ausglich. Dieser Mann war Hillel (etwa 112 v.d.Z. – 8 n.d.Z.).
Hillel war der sanftmütigste, freundlichste und geduldigste Mensch. Sein Einfluss ist bis heute in der ganzen Welt zu spüren. Hillel wurde in Bavel (Babylonien) geboren und verbrachte dort die ersten 40 Jahre seines Lebens. Aus diesem Grund wird er im Talmud manchmal als »Hillel der Babylonier« bezeichnet. Trotz der Herkunft der Familie von König David war er extrem arm und verdiente seinen Lebensunterhalt mit dem harten Handwerk eines Holzfällers.
JUDÄA Während in Judäa Krieg, Chaos und Aufruhr herrschten, war die jüdisch-babylonische Gemeinde relativ stabil und ruhig und brachte große Toragelehrte hervor. Hillel war einer von ihnen. Er kam eigentlich zweimal nach Judäa. Das erste Mal war in seiner Jugend, er studierte in der Akademie von Schamaja und Awtalion, die Konvertiten (beziehungsweise deren Nachkommen) waren. Als Herodes an die Macht kam, verließ er Judäa, wie viele Toragelehrte, die der König von Judäa grausam verfolgte. Die meisten wanderten nach Ägypten oder Babylonien aus. Hillel kehrte nach Babylonien zurück.
Es ist nicht genau bekannt, wann und unter welchen Umständen er das zweite Mal nach Judäa zurückkehrte. Wann auch immer es war, diesmal kehrte Hillel als ein voll entwickelter Gelehrter zurück, wenn auch als jemand, dessen wahre Größe zunächst unbekannt war (siehe Pessachim 66a).
Hillel stammte aus dem Haus Davids. Das Haus Hillel hat in der Tat länger regiert als das Haus David, insgesamt mehr als 400 Jahre. Von Hillels Zeit an, für 15 aufeinanderfolgende Generationen, war der »Nassi« (Prinz) – der Anführer des jüdischen Volkes – ein direkter Nachkomme von Hillel. Mit Hillel ging die Führung des Volkes aus den Händen der Hasmonäer – die Priester waren (also Nachkommen von Aharon, dem Leviten) – wieder auf das Haus Davids über, den Stamm Jehuda, wie es die Tora vorschrieb (1. Buch Mose 49,10) und frühere Generationen von Pharisäern versucht hatten, dies umzusetzen.
RÜCKZUG Bis zur Zeit Hillels hatten die führenden Gelehrten oft politischen und sogar militärischen Einfluss und hielten es für ihre Pflicht, diesen auszuüben, indem sie den König und die Regierung frontal angriffen. Hillel entschied, dass dieser Ansatz bei einem Wahnsinnigen wie Herodes nicht funktionieren würde. Es würde nur zu einem Blutbad führen. Also zog sich Hillel aus dem Kampf zurück. Er sagte in der Tat, dass die Aufgabe der Weisen darin bestand, die jüdische Welt von innen heraus aufzubauen. Herodes und die Römer würden sich auf Dauer sowieso nicht durchsetzen.
Einer von Hillels berühmten Aphorismen wurde eines Tages, als er einen Schädel auf dem Wasser treiben sah, geäußert: »Weil du ertränkt (das heißt gemordet) hast, wurdest du ertränkt, und am Ende werden diejenigen, die dich ertränkt haben, ertränkt werden« (Pirkej Awot 2,7).
Im weiteren Sinne war dies wirklich die Ansicht Hillels über nationale Politik: Die Geschichte fordert ihre eigene Vergeltung, das Böse wird nicht ewig bestehen. Irgendwann wird es fallen. Deshalb müssen wir es nicht frontal konfrontieren. Wir müssen das jüdische Volk nicht zerstören, während wir versuchen, es zu retten. Wenn Herodes uns die Freiheit gibt, unser eigenes, einzigartiges, jüdisches spirituelles Leben zu entwickeln, dann brauchen wir uns ihm nicht offen zu widersetzen.
Herodes hat nie ganz begriffen, dass Hillel ihn überlistet hat. Hillel hatte die Liebe und den Respekt des Volkes erlangt – eine Liebe und einen Respekt, die Herodes nie zuteilwurden und die er sich verzweifelt wünschte. In der Tat hatte Hillel eine Art Regierungssystem aufgebaut, das parallel zu dem von Herodes existierte. Und das jüdische Volk war dem »Königreich« von Hillel gegenüber loyaler als dem Königreich von Herodes.
Während der Zeit Hillels wuchs die jüdische Bevölkerung stark – vor allem wegen Konvertiten.
Schammai war der Zeitgenosse von Hillel. Während Hillel in Babylon geboren wurde und arm war, wurde Schammai in Judäa geboren und war wohlhabend. Mehr noch, Schammai hatte eine völlig andere Persönlichkeit als Hillel. Dennoch führten Hillel und Schammai mit ihren diametral entgegengesetzten Stilen gemeinsam das jüdische Volk durch eine seiner schwierigsten Perioden – und das war mehr als nur in einem äußerlichen, politischen Sinne schwierig.
MEINUNGSVERSCHIEDENHEITEN Bis zur Zeit von Hillel und Schammai war man sich im jüdischen Recht immer einig: Meinungsverschiedenheiten wurden durch den Sanhedrin beigelegt. Dennoch waren ab der Zeit von Hillel und Schammai die Belastungen für das jüdische Volk und sein Bildungssystem so groß, dass unter der jüdischen intellektuellen Führung neue, monumentale Meinungsverschiedenheiten in vielen Bereichen aufkamen.
Hillel und Schammai hatten ein Minimum an rechtlichen Unstimmigkeiten untereinander; tatsächlich waren es nur drei. Allerdings gründete jeder von ihnen seine eigene renommierte Akademie für Toragelehrsamkeit, und es kam zu zahlreichen und strittigen Meinungsverschiedenheiten (312, um genau zu sein) unter den Schülern der beiden Gelehrten. Schließlich gingen die Dispute über die bloße Anzahl von Streitigkeiten hinaus und wurden zu fast zwei diametral entgegengesetzten Standpunkten beziehungsweise Ansichten.
Es besteht die Gefahr, dies zu sehr zu vereinfachen, aber die Akademie des Schammai gilt als streng, während die Akademie des Hillel eher nachsichtig ist. Im Allgemeinen schaut die Akademie des Schammai auf das Potenzial eines Menschen, während die Akademie des Hillel auf die Realität schaut. Es gibt viele Theorien, die von jüdischen Autoritäten im Laufe der Jahrhunderte aufgestellt wurden und die versuchen, den zentralen Kern der auseinanderliegenden Meinungen zu klären.
HEIRATEN Die Größe der Akademien von Schammai und von Hillel besteht darin, dass ihre Anhänger trotz ihrer gravierenden Unterschiede untereinander heirateten, bei den jeweils anderen aßen und sich wie ein Volk verhielten. Es gab einen Unterschied in der Bildung und in der Weltanschauung, aber nicht im Lebensstil. In der Welt der Toragelehrten wurden Differenzen schließlich demokratisch durch Mehrheitsentscheidungen geklärt.
Der Talmud kam zu der Schlussfolgerung, dass das Gesetz (mit wenigen Ausnahmen) der Meinung der Akademie von Hillel folgt. Er beschreibt auch, wie Nichtjuden zu Hillel kamen, um unter ungewöhnlichen Bedingungen zu konvertieren. Anscheinend gab es in seiner Zeit einen gewissen Trend, der sehr viele Römer zum Übertritt zum Judentum bewegte. Dennoch fand Hillel Wege, sie zu einem vollständigen Übertritt zu bewegen. Das bedeutet jedoch nicht, dass er Menschen willkürlich oder ohne Bedingungen bekehrte, sondern dass er durch seine Persönlichkeit, Sanftmut und sein Charisma auch Menschen mit zweifelhaften Absichten in die richtige Richtung lenken konnte.
Noch bemerkenswerter ist, dass dies trotz der Tatsache geschah, dass das Judentum keine bekehrende Religion ist. Dennoch war dies eine außergewöhnliche Periode, die 100 bis 150 Jahre dauerte, in der sich die jüdische Bevölkerung vielleicht sogar verdoppelte. Das lag hauptsächlich an den Konvertiten.
Viele jüdische Kommentatoren führen dies darauf zurück, dass Hillel selbst ein Schüler von Konvertiten gewesen war. Hillels Unterstützung seiner Lehrer – sein ständiges Zitieren ihrer Ansichten und die Zuschreibung seines Wissens an sie – verstärkte die Bewegung der Konvertiten im gesamten jüdischen Volk.
In Zeiten schrecklicher Krisen schickt uns Gott einzigartige Menschen, die dem jüdischen Volk zum Überleben verhelfen. Hillel war solch eine außergewöhnliche Person. Er kam als Gegengewicht zu König Herodes und zu dem strengen Schammai, dessen Leistungen unbestritten sind. Doch Hillels Charakterstärke und sein edler Geist waren eine einzigartige Inspira-tion für das jüdische Volk – und sind es bis heute, mehr als 2000 Jahre danach.
Der Autor ist Rabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).