Kalender

Der unbekannte Feiertag

Äthiopische Juden beten am 29. Cheschwan in Jerusalem. Dieses Jahr wurde der Tag wegen des Schabbats auf den Donnerstag vorverlegt. Foto: Flash 90

Nach dem Feiermarathon im Tischri folgt der Kater im Cheschwan: Der achte Monat im jüdischen Kalender ist der einzige ohne Feiertage – so steht es zumindest in den Religionsbüchern, die man in unseren aschkenasischen Breitengraden kaufen kann. Allerdings reicht schon der Blick ins Heilige Land, um zu erkennen, dass das nicht überall stimmen kann: Denn in Israel ist der 29. Cheschwan ein staatlich anerkannter religiöser Feiertag. Nur, was wird da gefeiert?

Videoanruf bei einem, der es wissen muss: Qes Ephraim Lawi ist ein junger äthiopischer Jude aus Israel, über seinem freundlichen Gesicht strahlt ein weißer Turban. Wie schon die Kohanim im Tempel tragen die Priester bei den äthiopischen Juden diese Kopfbedeckung. Im Gegensatz zu den Kohanim in anderen jüdischen Strömungen wird diese Rolle allerdings nicht weitervererbt, erklärt Lawi.

»Bei mir ist es aber tatsächlich so, dass sowohl mein Vater, als auch mein Großvater sowie mein Urgroßvater diese spirituelle Position innehatten«, lacht Lawi. Sein Vater kam in den 80er-Jahren mit der sagenumwobenen »Operation Moses« nach Israel: Damals evakuierte der Mossad im Geheimen fast 8000 äthiopische Juden aus Flüchtlingslagern im Sudan ins sichere Israel. Heute sind mehr als 150.000 Menschen in Israel äthiopisch-jüdischer Abstammung – und am 29. Cheschwan feiern sie ihr eigenes Fest.

»Sigd ist 50 Tage nach Jom Kippur«, erklärt Lawi. Genau wie man nach Pessach 50 Tage bis Schawuot zählt, zählen äthiopische Juden nach dem höchsten jüdischen Feiertag noch einmal 50 Tage bis Sigd. Man zieht sich wiederum weiße Kleider an, man fastet noch einmal, man betet. »Aber im Gegensatz zu Jom Kippur bitten wir nicht um Vergebung für unsere individuellen Sünden, sondern wir beten diesmal für die gesamte Gemeinschaft«, sagt Lawi. »Dieses Jahr werden wir vor allem um Frieden und die Rückkehr der Geiseln bitten, von denen ein junger Mann auch der äthiopischen Gemeinde angehört«, sagt Lawi. »Wenn wir uns zu sehr voneinander trennen, nur auf uns selbst schauen, dann beginnen die Probleme«, ergänzt der Priester.

Wir erneuern am Sigd diesen Bund mit Gott

Als sie noch in Äthiopien lebten, erzählt Lawi, kamen die Juden an diesem Tag aus den Dörfern zusammen und bestiegen einen Berg, wo sie als Erstes die Zehn Gebote verlasen. »Hier finden wir eine zweite Parallele zu Schawuot: Es ist ja der Tag, an dem Moses auf dem Berg Sinai die Tora empfangen hat. Wir erneuern am Sigd diesen Bund mit Gott«, sagt Lawi. Die schriftlichen Wurzeln des Feiertages verorten die äthiopischen Autoritäten im Buch Nehemia. Es ist eine Geschichte der Wiederentdeckung der jüdischen Schriften nach der Zerstörung des Ersten Tempels und dem babylonischen Exil. Esra, der damalige Hohepriester, präsentiert darin dem Volk Israel den vergessenen heiligen Text.

Für äthiopische Juden, die isoliert von anderen jüdischen Gemeinden überlebten, zu christlichen Konversionen gezwungen wurden und Gefahr liefen, ihre jüdischen Traditionen zu vergessen, hat diese Geschichte eine ganz besondere Bedeutung. In Äthiopien sei der Sigd-Tag ein Zeichen der Rückbesinnung auf den Bund am Berg Sinai, aber auch seiner Verwirklichung im Lande Israel gewesen, erklärt Lawi: »Wir beteten voller Sehnsucht für die Rückkehr nach Jerusalem.«

Das Wort »Sigd« stammt von »sigda« – dem Verbeugen in Richtung der heiligen Stadt. Und heute feiern die äthiopischen Juden tatsächlich jedes Jahr dort: auf der Sherover Promenade in Jerusalem.

Wajigasch

Nach Art der Jischmaeliten

Was Jizchaks Bruder mit dem Pessachlamm zu tun hat

von Gabriel Umarov  03.01.2025

Talmudisches

Reich sein

Was unsere Weisen über Geld, Egoismus und Verantwortung lehren

von Diana Kaplan  03.01.2025

Kabbala

Der Meister der Leiter

Wie Rabbiner Jehuda Aschlag die Stufen der jüdischen Mystik erklomm

von Vyacheslav Dobrovych  03.01.2025

Tradition

Jesus und die Beschneidung am achten Tag

Am 1. Januar wurde Jesus beschnitten – mit diesem Tag beginnt bis heute der »bürgerliche« Kalender

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  01.01.2025 Aktualisiert

Chanukka

Sich ihres Lichtes bedienen

Atheisten sind schließlich auch nur Juden. Ein erleuchtender Essay von Alexander Estis über das Chanukka eines Säkularen

von Alexander Estis  31.12.2024

Brauch

Was die Halacha über den 1. Januar sagt

Warum man Nichtjuden getrost »Ein gutes neues Jahr« wünschen darf

von Rabbiner Dovid Gernetz  01.01.2025 Aktualisiert

Mikez

Schein und Sein

Josef lehrt seine Brüder, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie auf den Betrachter wirken

von Rabbiner Avraham Radbil  27.12.2024

Chanukka

Wie sah die Menora wirklich aus?

Nur Kohanim konnten die Menora sehen. Ihr Wissen ist heute verloren. Rabbiner Dovid Gernetz versucht sich dennoch an einer Rekonstruktion

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.12.2024

Resilienz

Licht ins Dunkel bringen

Chanukka erinnert uns an die jüdische Fähigkeit, widrigen Umständen zu trotzen und die Hoffnung nicht aufzugeben

von Helene Shani Braun  25.12.2024