Talmudisches

Der überlistete Dieb

Wie zwei Rabbiner ihre gestohlenen Geldbeutel zurückerhielten

von Yizhak Ahren  21.02.2020 11:34 Uhr

Diebesgut: Um Gestohlenes zurückzubekommen, darf man von der Wahrheit abweichen. Foto: Getty Images/iStockphoto

Wie zwei Rabbiner ihre gestohlenen Geldbeutel zurückerhielten

von Yizhak Ahren  21.02.2020 11:34 Uhr

Eine bekannte lateinische Redensart lautet »nomen est omen« – »der Name ist Zeichen«. Gemeint ist, dass der Name einer Person etwas über ihre Charaktereigenschaften verrät. Doch können wir tatsächlich aus dem Namen eines Menschen Schlüsse für den Umgang mit ihm ziehen? Aus einer talmudischen Geschichte (Joma 83b) geht hervor, dass drei Tannaiten über diese Frage nachgedacht haben.

Versteck »Einst befanden sich Rabbi Meir, Rabbi Jehuda und Rabbi Jose auf einer Reise. Rabbi Meir achtete auf den Namen, Rabbi Jehuda und Rabbi Jose hingegen nicht. Sie kamen in eine Ortschaft und suchten eine Unterkunft für die Nacht. Als sie ein Quartier erhielten, fragten sie den Wirt nach seinem Namen. Der Mann erwiderte: ›Kidor‹. Da dachte Rabbi Meir: Es scheint, dass der Wirt ein Bösewicht ist; denn es steht in der Tora: ›Ein Geschlecht (hebräisch: ki dor) von Falschheiten sind sie, Kinder, in denen keine Treue ist‹ (5. Buch Mose 32,20). Rabbi Jehuda und Rabbi Jose übergaben Kidor ihren Geldbeutel; Rabbi Meir jedoch nicht. Er versteckte sein Geld im Grab von Kidors Vater.«

Erstaunlicherweise erriet der Wirt Rabbi Meirs Versteck. Denn es erschien ihm »im Traum (...) sein Vater, der zu ihm sprach: ›Komm, hol dir den Geldbeutel, der an der Kopfseite dieses Mannes liegt!‹ Als er den Tannaiten am Morgen seinen Traum erzählte, sagten sie zu ihm: Ein Traum in der Schabbatnacht hat keine Bedeutung!«

Raschi bemerkt zu dieser Passage, sie hätten Kidor nur davon abhalten wollen, zum Grab des Vaters zu gehen, um den Geldbeutel zu nehmen.

Geldbörse Doch zur Sicherheit begab sich Rabbi Meir zum Grab, verweilte dort bis Schabbatausgang und nahm dann seine Geldbörse wieder an sich.

»Am nächsten Tag sagten Rabbi Jehuda und Rabbi Jose zum Wirt: ›Gib uns bitte unsere Geldbeutel zurück.‹ Der Wirt erwiderte, er wisse nicht, wovon sie redeten.«

Kidor bestritt also dreist, ein Depositum erhalten zu haben. Er war offensichtlich ein gemeiner Dieb.

Rabbi Meir bemerkte zu dem Vorfall: »Weshalb habt ihr nicht auf seinen Namen geachtet?« Die beiden erwiderten: Weshalb hat uns der Meister dies nicht früher gesagt? Da antwortete er: ›Zwar dachte ich, es gäbe einen Grund zur Vorsicht, aber sicher war ich mir nicht.‹«

Sogar Rabbi Meir, der stets auf Namen achtete, hatte sich also nicht in der Lage gesehen, eine klare Warnung auszusprechen. Zwar hatte er Verdacht geschöpft und Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, mehr jedoch hatte er nicht unternommen.

Schnurrbart Mit dem Diebstahl wollten sich Rabbi Jehuda und Rabbi Jose nicht abfinden. Sie nahmen Kidor mit in eine Weinstube. Vielleicht hofften sie, der diebische Wirt würde sich im angetrunkenen Zustand verplappern – doch das geschah nicht. Im Weinlokal bemerkten die beiden einige Linsen an Kidors Schnurrbart. Diese Beobachtung nutzten sie aus.

Sie gingen zu seiner Ehefrau und sprachen zu ihr: »Dein Mann sagt, du sollst uns die Geldbeutel zurückgeben, und es soll als ein Zeichen gelten, dass ihr heute Linsen gegessen habt.« Da überreichte sie den Männern die Geldbeutel. Als der Wirt von der List der Bestohlenen erfuhr, wurde er wütend und erschlug seine Frau.

Bei der Lektüre unserer Geschichte drängt sich eine religionsgesetzliche Frage auf. In der Tora steht: »Halte dich fern von einem Wort der Lüge« (2. Buch Mose 23,7). Wieso belogen also Rabbi Jehuda und Rabbi Jose die Frau des Wirts?

Die Antwort ist eindeutig: Um Gestohlenes zurückzubekommen, darf man von der Wahrheit abweichen. Nach der Halacha gibt es in der Tat mehrere Fälle, in denen jemand die Unwahrheit sagen darf (Jewamot 65b und Baba Metzia 23b). So ist man zum Beispiel, um einen Mord zu verhindern, sogar verpflichtet zu lügen.

Wahrheit ist zweifellos ein wichtiger Wert, nach rabbinischer Auffassung aber eben nicht der höchste.

Essay

Die gestohlene Zeit

Der Krieg zerstört nicht nur Leben, sondern auch die Möglichkeit, die Zukunft zu planen, schreibt der Autor Benjamin Balint aus Jerusalem anlässlich des Feiertags Simchat Tora

von Benjamin Balint  23.10.2024

Bereschit

Höhen und Tiefen

Sowohl Gut als auch Böse wohnen der Schöpfung inne und lehren uns, verantwortlich zu handeln

von Rabbinerin Yael Deusel  23.10.2024

Simchat Tora

Untrennbar verwoben

Können wir den Feiertag, an dem das Massaker begann, freudig begehen? Wir sollten sogar, meint der Autor

von Alfred Bodenheimer  23.10.2024

Deutschland

Sukkot in der Fußgängerzone

Wer am Sonntag durch die Bonner Fußgängerzone lief, sah auf einem zentralen Platz eine Laubhütte. Juden feiern derzeit Sukkot auch erstmals öffentlich in der Stadt - unter Polizeischutz

von Leticia Witte  20.10.2024

Laubhüte

Im Schatten Seiner Flügel

Für die jüdischen Mystiker ist die Sukka der ideale Ort, um das Urvertrauen in Gʼtt zu stärken

von Vyacheslav Dobrovych  16.10.2024

Freude

Provisorische Behausung

Drei Wände und ein Dach aus Zweigen – selbst eng gedrängt in einer zugigen Laubhütte kommt an Sukkot feierliche Stimmung auf

von Daniel Neumann  16.10.2024

Chol Hamoed

Körperlich herausfordernd

Warum das Buch so gut zu Sukkot und seinen Mizwot passt

von Rabbiner Joel Berger  16.10.2024

Talmudisches

Gericht und Reue

Was unsere Weisen über das Fasten an Jom Kippur und die Sünden zwischen den Menschen lehrten

von Vyacheslav Dobrovych  15.10.2024

Berlin

Zu Besuch in Deutschlands einzigem koscheren Hotel

Ilan Oraizers King David Garden Hotel ist ein Unikum in der Bundesrepublik

von Nina Schmedding  13.10.2024