Talmudisches

»Der Tod ist zu unseren Fenstern gekommen«

Das Fasten sollte uns nicht anfälliger für eine Krankheit machen. Foto: Getty Images / istock

Talmudisches

»Der Tod ist zu unseren Fenstern gekommen«

Vom Fasten bei einer Epidemie

von Rabbiner Avraham Radbil  22.05.2020 09:54 Uhr

Im Talmud (Bava Kamma 60b) lesen wir: »Wenn es in der Stadt eine Epidemie gibt, sammle deine Füße« – das heißt: Bleib drinnen! Ebenso wurde den Hebräern in der Nacht des Exodus befohlen, als der Todesengel die ägyptischen Erstgeborenen tötete: »Keiner von euch soll bis zum Morgen aus der Tür seines Hauses gehen« (2. Buch Mose 12,22).

Die Gemara fährt fort, Rava würde bei einer Epidemie seine Fenster schließen, denn es heißt: »Der Tod ist zu unseren Fenstern gekommen« (Jirmejahu 9,20).

HUNGER Der Talmud sagt auch: »Spreize deine Füße, wenn es in der Stadt eine Hungersnot gibt!« Das heißt: Bei Hunger soll man fliehen, aber wenn es eine Pest gibt, soll man sich vor Ort schützen.

Rabbi Schlomo Luria, der Maharschal (1510–1574), zitiert frühere Rabbiner, die die Flucht vor einer Epidemie erlauben oder sogar empfehlen (Jam Schel Schlomo, Bava Kamma 6,26). Er erklärt: Während einer Epidemie soll man im Haus bleiben. Man kann zu diesem Zeitpunkt nicht mehr fliehen, sondern muss vor Ort Schutz suchen. Wenn die Epidemie aber gerade erst anfängt, könne man die Stadt schnell noch verlassen und an einen entfernten sicheren Ort fliehen.

Einige andere Rabbiner kommen zu ähnlichen Schlussfolgerungen.

FLUCHT Rav Mosche von Trani, der Mabit (1505–1585), stimmt zwar zu, dass man vor einer Epidemie fliehen könne und sollte, er fügt aber hinzu: Wir sagen, dass der Mensch an Rosch Haschana und Jom Kippur entweder ins Buch des Lebens oder in das andere Buch eingeschrieben wird. Wenn dem so ist, wie kann dann bei einer Epidemie die Flucht helfen? Jemand, der zum Sterben bestimmt ist, wird so oder so sterben (Bet Elokim, Tefila, Kap. 16).

Interessanterweise meint der Mabit aber, dass anstelle des tatsächlichen Todes der Schmerz des Exils, die physische und emotionale Belastung der Flucht als Strafe dienen könnte. Daher kann eine Person dem Tod entkommen, indem sie die Schwierigkeiten der Flucht auf sich nimmt.

Vielleicht lässt sich das Gleiche von der Not des Schutzes vor Ort sagen. Selbst wenn man vor der Epidemie persönlich sicher ist, kann eventuell die unfreiwillige emotionale Belastung, unter der man leidet, als Strafe dienen, um dem Erkranken zu entgehen.

SCHOFAR Die Mischna (Taanit 19a) sagt, dass die Einwohner einer Stadt, die eine Epidemie erlebt, fasten, das Schofar blasen und besondere Gebete sprechen sollen.

Die Mischna spricht von einer Epidemie, wenn an einem Ort innerhalb von drei Tagen drei von 500 Menschen, also 0,6 Prozent, sterben.

Eine Baraita (19b) fügt hinzu, dass wir, wenn es eine Diphtherie-Epidemie ist, die vom Tod begleitet wird, fasten und besondere Gebete sprechen sollen. Maimonides, der Rambam (1138–1204), verallgemeinert dies jedoch auf jede Krankheit, die den Tod verursacht (Mischne Tora, Hilchot Taanit 2,13).

Der Ritva, Rabbi Jom Tov ben Awraham Isbilli (1260–1330), erklärt den Un­terschied zwischen Epidemie und Krankheit (Taanit 19a). Bei einer Epidemie könne es sich um verschiedene Krankheiten handeln. Wenn drei von 500 Menschen innerhalb von drei Tagen sterben, sei es eine Epidemie. Sterben sie an derselben Krankheit, ist kein Zeitrahmen erforderlich.

KRANKHEIT Der Schulchan Aruch (Orech Chajim 576,5) geht etwas weiter: Sobald sich eine Krankheit in der Gemeinde ausgebreitet hat und Menschen daran sterben, müsse man – ungeachtet der Anzahl der Todesfälle – mit Fasten darauf reagieren und besondere Gebete sprechen.

Der Bach, Rabbi Joel Serkes (1561–1640), meint, man müsse, sobald sich eine tödliche Krankheit ausgebreitet hat, fasten, auch wenn es noch keine Toten gibt.

Rabbi Avraham Gombiner (1633–1683) fügt hinzu, die Menschen seien zu seiner Zeit zu schwach gewesen, um zu fasten. Manche späteren Autoritäten folgten dieser Meinung, die auch heute zutreffen könnte. Das heißt, wir müssen uns mit Ärzten beraten, ob uns das Fasten anfälliger für die Krankheit macht, denn wir können nicht zulassen, dass unser Fasten und unsere Gebete die Probleme verschlimmern.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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