Am 17. Tamus – der in diesem Jahr auf Dienstag, den 15. Juli, fällt – fasten wir von der Morgenröte bis zur Abenddämmerung. In erster Linie fasten wir aus Trauer und Reue über die Zerstörung beider Tempel in Jerusalem und das andauernde Exil. Doch wie entstand dieser Trauertag?
Der römische Prokurator Gessius Florus, über den Josephus schrieb: »In seiner Grausamkeit kannte er kein Mitleid, in seiner Ruchlosigkeit keine Scham«, löste im Jahr 66 n.d.Z. den großen jüdischen Aufstand in Palästina aus. Im Folgejahr kam ihm der syrische Statthalter Gaius Cestius Gallus zu Hilfe und wurde von den jüdischen Kräften geschlagen. Er verlor 6000 Männer, und Judäa hätte fast die römische Oberherrschaft abgeschüttelt. Deshalb führten der spätere Kaiser Vespasian und sein Sohn Titus von 67 bis 74 eine Kampagne, um den Aufstand zu bezwingen, was zur Zerstörung des Tempels am 9. Aw des Jahres 70 führte.
Am 17. Tamus des gleichen Jahres, also drei Wochen vor der Zerstörung des Tempels, brach Titus durch die letzten Verteidigungsmauern außerhalb des Tempelbergs und eroberte damit die ganze Stadt (nach Josephus war es sogar die Mauer des Tempelbergs selbst). Im traurigen Andenken an dieses Ereignis fasten wir jedes Jahr an diesem Tag, sprechen zum Morgengebet Selichot (Verzeihungsbittgebete) und lesen einen besonderen Abschnitt aus der Tora zum Morgen- und zum Nachmittagsgebet.
Mischna Die Mischna (Taanit 4,6) berichtet von fünf traurigen historischen Ereignissen, die alle am 17. Tamus stattfanden. Das erste gehört zu den frühsten Erfahrungen unseres Volkes. Sieben Wochen nach dem Auszug aus Ägypten standen unsere Vorfahren am Fuß des Bergs Sinai. Am Folgetag nahmen sie Abschied von Mosche, der 40 Tage auf dem Berg blieb. Am 6. Siwan fand die große Offenbarung statt, am 7. Siwan stieg Mosche also auf den Berg. Der Monat Siwan hat typischerweise 30 Tage, sodass der 17. Tamus der 41. Tag war, an dem Mosche zurückkam, das Goldene Kalb sah und die Tafeln zerbrach.
Übrigens kannte der Monat Tamus im Zuge der Zerstörung des Ersten Tempels bereits eine Trauerzeit. Der Prophet Secharja nennt einen Fastentag Zom ha’Rewii, den Fastentag des vierten Monats, also des Monats Tamus. Die Stadtmauer Jerusalems wurde nämlich auch in Zusammenhang mit der Zerstörung des Ersten Tempels eingerissen, nach dem 2. Buch Könige und dem Buch Jeremias am 9. des Monats Tamus.
opfer Die Mischna spricht außerdem von drei weiteren Ereignissen, die chronologisch schwieriger einzuordnen sind. Das tägliche Tamid-Opfer, zwei Schafe, konnte ab diesem Datum nicht mehr gebracht werden. Ein Mann namens Aposthemos verbrannte eine Torarolle, und es wurde ein Götze im Tempel aufgestellt. Die Meinungen sind geteilt, wann diese drei Ereignisse stattfanden. So dürfte der Götze, der am 17. Tamus errichtet wurde, das Werk der Hellenen zur Zeit der Hasmonäer oder das Werk des anfänglich sehr polytheistisch geprägten Köigs Manasse während des Ersten Tempels gewesen sein.
Nach einer anderen Meinung aber waren seine Urheber die Römer unter Hadrian, als aus Jerusalem eine heidnische Stadt namens Aelia Capitolina wurde. Laut Josephus wurde damals das tägliche Opfer eingestellt, weil mit dem Durchbrechen der Mauer des Tempelbergs die Lage so kritisch wurde, dass auch die Kohanim zum Kampf aufgerufen wurden und sie nicht mehr tahor, rituell rein, bleiben konnten, was aber eine Bedingung zur Teilnahme am Opferdienst ist. Eine andere zeitliche Einordnung bezieht diese Ereignisse auf die Hasmonäerzeit, als der Erste Tempel von Antiochus IV. Epiphanes belagert wurde. Täglich ließ man zwei Schafe an einem Seil für das Opfer auf den Tempelberg hochziehen. Eines Tages wurde diese Praxis eingestellt.
Kreuzzüge Mit der Mischna hörte der 17. Tamus leider nicht auf, an Bedeutung zu gewinnen: Auch im Jahr 1099 fiel er auf den 15. Juli, einen blutigen Tag in Jerusalem, als die Kreuzfahrer die Stadt eroberten, viele Juden und Muslime töteten und Synagogen in Brand setzten. Damit realisierte sich einmal mehr das Prinzip, das Nachmanides formuliert hatte: »Ma’asse Awot Siman la-Banim«, die Geschichte der Väter ist auch eine Vorschau der späteren Geschichte.
Mit dem 17. Tamus beginnt eine dreiwöchige Trauerperiode, die mit einem traurigen »Höhepunkt«, dem 9. Aw, dem Jahrestag der Zerstörung beider Tempel, endet. Während dieser drei Wochen heiratet man nicht, geht nicht zu Konzerten, hört, wenn möglich, überhaupt keine Musik und sieht von erfreulichen Anlässen ab. Man lässt sich auch nicht die Haare schneiden. Ab dem 1. Aw, der in diesem Jahr am Abend des 27. Juli beginnt, fängt dann die allertraurigste Zeit des Jahres an. Man isst kein Fleisch und trinkt keinen Wein, bis man am 9. Aw von Sonnenuntergang bis Abenddämmerung am Folgetag fastet.
Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik hat die gemeinsame Trauer dieser drei Wochen im Sommer mit der Trauer nach dem Tod eines engen Verwandten verglichen. Er bemerkte aber, dass die Reihenfolge umgekehrt ist. Stirbt jemand, dann beginnt eine Periode intensiver Trauer, die man »Aninut« nennt. Dabei isst man kein Fleisch, trinkt keinen Wein, lernt keine Tora und beschäftigt sich ausschließlich mit der persönlichen Trauer. Auf die Beerdigung folgt die Schiwa, die Trauerwoche. Fleisch darf gegessen und Wein getrunken werden, aber die Trauernden sitzen auf einem niedrigen Stuhl und beschäftigen sich weiterhin nur mit ihrem Verlust.
jahrzeit Ab Mitte des siebten Tages hört die Schiwa auf, und es beginnt eine Periode der etwas milderen Trauer, die Scheloschim – 30 Tage, während der man weder Nägel noch Haare schneidet. Für Kinder, die um ihre Eltern trauern, brechen dann zwölf Monate an, vom 30. Tag bis zur Jahrzeit, in denen die Trauer sich immer weiter abmildert.
Doch die »historische Trauer« zwischen dem 17. Tamus und dem 9. Aw verläuft anders: Vor 1900 Jahren, als sich unsere Vorfahren an den Tempel erinnerten, war die Trauer noch greifbar. Heute brauchen wir ein bisschen »Coaching«, um richtig trauern zu können. Deshalb fangen wir zuerst mit einer milden Trauerperiode an, vom 17. Tamus bis zum Ende diesen Monats. Dann verschärft sich die Trauer und nimmt Aspekte der Scheloschim an, der Schiwa und sogar der Aninut.
Unsere Weisen lehren, dass der, der um die Zerstörung Jerusalems trauert, auch die Freude der Stadt miterleben wird. Nach den dunklen Wochen, die wir soeben durchmachen, wünsche ich uns allen, an den Freuden Jerusalems teilzuhaben!
Der Autor ist Mitglied des Beirats der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.