Es begab sich, dass einem Ehemann die Frau starb und ihm ein Kind im Säuglingsalter hinterließ. Die Familie war aber so arm, dass es sich der Mann nicht leisten konnte, eine Amme für das Kind zu bezahlen. Da ließ der Ewige ein Wunder geschehen und dem Vater Brüste wachsen, sodass er den Säugling selbst stillen konnte.
Der Talmud überliefert uns diese Geschichte im Traktat Schabbat 53b, zusammen mit vier Kommentaren von Gelehrten. Rabbi Josef sagt, das müsse ein ganz vorzüglicher Mann gewesen sein, dass der Ewige ihm ein solches Wunder habe widerfahren lassen.
Naturgesetz Im Gegenteil, widerspricht ihm Rabbi Abaje, das sei wohl ein ganz armseliger Mensch gewesen, dass seinetwegen sogar die Naturgesetze außer Kraft gesetzt wurden, und noch dazu auf eine so erniedrigende Weise.
Rabbi Jehuda sieht in der Geschichte eine allgemeine Problematik beschrieben, nämlich die Schwierigkeit eines jeden Menschen, für seinen Unterhalt zu sorgen.
Und Rabbi Nachman meint, Wunder geschähen eigentlich gar nicht so selten, wenn es um die menschliche Versorgung gehe, aber sie gingen doch nicht so weit, dass die Nahrung auf wundersame Weise einfach so in der Stube stünde.
Wunder Nun ist es nicht gerade ein alltägliches Phänomen, dass einem alleinerziehenden Mann eine solche anatomische Veränderung widerfährt, aber völlig ausgeschlossen ist es in der Welt der Säugetiere offenbar nicht. Also doch ein Wunder – und bestimmt war das ein ganz besonderer Mann, dass ihm so etwas zuteilgeworden ist, staunt Rabbi Josef.
Und doch: Warum ein so umständliches Wunder? Wäre es nicht einfacher und natürlicher gewesen, der Mann wäre unverhofft zu Geld gekommen, sodass er die Amme hätte bezahlen können? Vielleicht hätte ihm ein anderer jedoch in diesem Fall das Geld abgenommen; schließlich war die Familie arm, und womöglich hatte der Mann auch noch Schulden.
Oder er selbst hätte es für etwas anderes ausgegeben. Das hat wohl Rabbi Abaje im Sinn, als er Rabbi Josef energisch widerspricht und damit auch zu verstehen gibt, dass der Nutzen des Wunders schließlich nicht für den Vater, sondern für das Baby gedacht war. Es handelte sich also um eine strikt zweckgebundene Zuwendung. Der Vater konnte sie gar nicht anders verwenden als dafür, sein Kind zu ernähren.
Rabbi Jehuda beseufzt ganz allgemein das schwere Los des Menschen, der stets um seinen Unterhalt bangen muss, was ja nicht nur diesen einen Mann betrifft. Und Rabbi Nachman bemerkt, dass doch immer wieder Wunder geschähen um uns herum, gerade auch in so profanen Dingen wie der Sicherung des Lebensunterhalts. Nur sind sie nicht gar so oft gleich von Weitem als Wunder kenntlich. Wer freilich darauf wartet, dass wie beim Tischleindeckdich das Essen wie von Zauberhand aus dem Nichts erscheint, bevor er an ein Wunder glaubt, der kann lange warten.
Maasse-Buch Die Begebenheit vom stillenden Witwer findet sich ebenfalls im Maasse-Buch. Dort lesen wir als Moral von der Geschicht’: »Auch finden wir, dass der Heilige, gelobt sei Er, viele Wunder tut, dass Er den Menschen beschirmt und ihm seine Speise beschafft. (Aber) wir finden nicht, dass der Heilige, gelobt sei Er, den Zaddikim ihren Weizen und ihre Häuser beschafft.«
Im Siddur wird der Gedanke von Rabbi Jehuda ebenfalls aufgenommen, nämlich in den Birkot Haschachar im Morgengebet sowie im Birkat Hamason, worin wir jeweils dem Ewigen danken für Nahrung und Lebensunterhalt. Noch deutlicher begegnet uns der Gedanke in der Wochentags-Amida, wo wir um einen guten Ertrag unserer Arbeit bitten, aber keineswegs darum, dass uns der Ewige ohne jegliches Zutun unsererseits ein bequemes Leben bescheren möge.
Und auch die Ausführungen von Rabbi Nachman finden sich in unseren Gebeten wieder, danken wir doch jeden Tag, ob Werktag oder Schabbat, in der Amida für die Wunder, die uns der Ewige Tag für Tag geschehen lässt, zu jeder Zeit, abends, am Morgen und am Mittag.