Die Versuchung und die bösen menschlichen Instinkte sind nicht leicht zu überwinden. Schon gar nicht dürfen sie ignoriert werden. Von Adam und Eva im Garten Eden über Kain und Abel, Noach und seinen Enkelsohn Kanaan, dem Bau des babylonischen Turms, dem 14-jährigen Krieg der fünf Könige gegen die vier Könige und dem Verhalten Lots, der lieber in Sodom wohnte statt in der Gesellschaft von Abraham, scheint nichts offensichtlicher zu sein, als dass der böse Trieb in den Angelegenheiten der Menschen meist die Oberhand behält.
Eltern und Lehrer wissen, wie schwierig es ist, moralische und gute Kinder oder Schüler zu erziehen. Dies ist kein Problem unserer Zeit – oder des iPhones. Es war immer schwierig. König Salomon lehrte uns, dass es »nichts Neues unter der Sonne gibt«. Die Tora selbst bezeugt die Tatsache, dass »die Natur des Menschen von Jugend an böse ist«.
Deshalb sind die Probleme, die in der Welt herrschen, von persönlicher, nicht von institutioneller Art. Schwierigkeiten mit der Einhaltung religiöser Vorschriften durch gefährdete Kinder sind persönlich und individuell – Kinder, in Versuchung geführt vom Glitzern der Sünde, die die Außenwelt regiert. Zwar sind Schulen und Lehrer, Jeschiwot und Mentoren weit entfernt davon, vollkommen zu sein – es sind auch nur Menschen. Doch den Lehrplan, die Institutionen oder gar das Personal zu ändern, ist kein Allheilmittel. Schon in einem alten Witz heißt es dazu so schön: »Wie viele Psychiater braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln? Einen, aber die Glühbirne muss wollen, dass sie ausgewechselt wird!« Das gilt auch für die Menschen. Letztendlich ist alles individuell und persönlich.
reformbewegung Als die Reformbewegung im späten 19. Jahrhundert in der jüdischen Gesellschaft zu einer wichtigen Kraft wurde, stellte sich ihr Rabbi Yisrael Lipkin von Salant (1810–1883) mit der Schaffung der Mussar-Bewegung entgegen, die sich die Reform des ethischen und moralischen Verhaltens der Juden auf die Fahnen schrieb. Er fasste die Ziele beider Bewegungen prägnant zusammen: »Reform will das Judentum ändern. Mussar will die Juden ändern.«
Das Problem der Reformbewegung liegt in der Tatsache begründet, dass sie die Juden nicht verändert. Sie verhindert ihre Assimilierung und Entfremdung nicht. Sie will die Institutionen ändern – das Rabbinat, die rabbinischen Gerichte und so weiter –, doch verlangt sie den Individuen nichts ab. Die Religion muss sich am Individuum ausrichten, ganz gleich, ob jemand in einer Ehe mit einem Nichtjuden lebt, ein völlig säkulares Leben führt, sich nicht für das Judentum interessiert, nur seinen physischen Wünschen und Begierden folgt und den grundsätzlichen Lehren und der Geschichte des Judentums in seliger Unwissenheit gegenübersteht.
oberfläche Die Reformbewegung fordert nichts vom Einzelnen – lediglich von den Institutionen und dem Glauben selbst. In der orthodoxen Welt ist Mussar als Massenbewegung ebenso gescheitert. Das Äußerliche ist alles. Das zählt heute. Die innere Seele wird preisgegeben. Doch Gott interessiert sich nicht für das Äußerliche. »Menschen sehen die Oberfläche mit den Augen, der Herr aber sieht das innere Herz.« Es gibt keine leichten Antworten auf unsere Probleme. Neue Lehr- und Unterrichtsmethoden zu finden, ist gut und notwendig, doch die Schüler müssen wollen, dass sie erzogen werden.
Der schwarze Mantel und das weiße Hemd können kein schlechtes Herz gut machen. Daher war keiner der Neuerungen unserer Zeit wirklich allgemeiner Erfolg beschieden. Wir beschäftigen uns ständig mit Führungsfragen und damit, wie Schulen oder Institutionen verbessert werden können, obwohl die tatsächliche Herausforderung von jedem Einzelnen persönlich gemeistert werden muss.
aufklärung Seit der Aufklärung glaubt die westliche Zivilisation, glauben jedenfalls die Akademiker, dass die Geschichte ein stetiges und geradliniges Fortschreiten der Zivilisation ist. Die Welt wird immer besser, Krieg wird es nicht mehr geben, und Bruderliebe sowie Solidarität warten gleich um die Ecke. Das Problem ist, dass wir im Verlauf der seit der Aufklärung vergangenen blutigen und repressiven Jahrhunderte zu keinem Zeitpunkt um diese Ecke gebogen sind.
Technologie und Medizin haben sich gewiss in gerader Linie fortentwickelt, doch das menschliche Verhalten hat damit nicht Schritt gehalten. Aufgrund des technischen Fortschritts sind Kriege unendlich viel destruktiver und mörderischer als je zuvor. Terrorismus ist noch tödlicher. Die Kriminalität hat sich nicht vermindert; sie ist hochgerüstet und noch gewalttätiger.
Moral Das Judentum sieht die Geschichte als zyklisch an. Um noch einmal König Salomon zu zitieren: »Was gewesen ist, ist das, was werden wird.« Der Grund dafür ist, dass der Kampf zwischen dem Guten und Bösen letzten Endes persönlich und individuell ist. Ein scharfsinniger amerikanischer Politiker sagte einmal: »Alle Politik ist lokal.« Und genauso sind die Moral, das Gute, Mitgefühl, Ehrlichkeit und wahrer Glauben rein persönlich.
Daher dürfen wir niemals die Kräfte des Bösen unterschätzen, die in uns und um uns sind. Sie müssen bekämpft und besiegt werden. Das kann nur geschehen, wenn der Einzelne wahrnimmt, dass dieser Kampf (der Leben heißt) gegenwärtig ist, und wenn der Mensch bereit ist, den Kampf zu gewinnen. Dies wird nicht geschehen, wenn man Regeln und Vorschriften verändert oder auf Allheilmittel seitens der Regierungen und Institutionen setzt, sondern nur, indem man beständig das eigene Selbst verbessert.