Die Tora berichtet im 4. Buch Mose (6, 1–21) vom Konzept des Nasiräertums. Ein Nasir ist eine Person, die für eine bestimmte Zeit ein Gelübde ablegt. Es beinhaltet, sich des Weines zu enthalten, sich das Haupthaar nicht zu scheren und sich nicht an Toten zu verunreinigen. Nach Ablauf der für das Gelübde bestimmten Zeit muss der Nasir sein Haar scheren.
Treffen Der Talmud berichtet vom Zusammentreffen des berühmten Rabbi Schimon Hazadik und eines jungen Mannes, der zum Nasir wurde. »Eines Tages kam ein Nasir aus dem Süden. Er war sehr hübsch und hatte schöne Augen sowie langes Haar. Ich fragte ihn: ›Mein Sohn, wieso wünschst du dein schönes Haar zu vernichten?‹ Er antwortete: ›Ich bin ein Schafhirte, der für seinen Vater arbeitet. Eines Tages wollte ich Wasser aus der Quelle holen. Ich erblickte mein Abbild im Wasser, und der böse Trieb füllte mein Herz mit Arroganz. Ich sagte mir: Wie kann ich arrogant sein in einer Welt, die nicht mir gehört!? Ich werde mein Haar abschneiden, um G’tt zu dienen!‹« Da küsste Rabbi Schimon den Kopf des jungen Mannes und lobte seine Entscheidung (Nedarim 9b).
Diese talmudische Geschichte ist das Gegenmodell zur griechischen Mythologie. Auch diese kennt die Geschichte eines jungen Mannes, der sein Abbild in einer Quelle erblickte. Die griechische Geschichte von Narziss nahm allerdings ein ganz anderes Ende, und der Protagonist wurde zum Namensgeber der narzisstischen Persönlichkeitsstörung.
Visionen Schimon Hazadik ist laut der jüdischen Tradition das Bindeglied zwischen Prophetie und Rabbinertum (Awot Kap. 1). Laut dem Talmud (Joma 69a) stieg Alexander der Große von seinem Pferd hinab, als er Schimon Hazadik erblickte. Er berichtete von Visionen, in denen er den Rabbi erkannte und so seines Sieges versichert wurde.
Kein anderer verkörpert den Gegensatz zum Hellenismus so wie Schimon Hazadik. Er ist ein Beispiel für Spiritualität und Gelehrsamkeit, vor der sich die griechische Welt, repräsentiert durch Alexander den Großen, letztendlich verbeugt.
Gleichzeitig lebt er im Zeitgeist. Sein Sinn für die Ästhetik des Körpers wird aus der oben zitierten Geschichte deutlich. Daher erzählt der Talmud die Geschichte von dem Nasir als Gegenmodell zu Narziss nicht zufällig im Zusammenhang mit Schimon Hazadik. Die Bescheidenheit, die aus der Antwort des jungen Nasirs ersichtlich wird, ist ein natürliches Resultat des G’ttesbewusstseins.
Viele Dinge können zu Überheblichkeit führen. Bei manchen ist es das Geld, bei anderen das gute Aussehen oder der scharfe Intellekt.
Zufälle Wenn man ehrlich mit sich selbst ist, so erkennt man, dass es eine Menge vermeintlicher »Zufälle« bedurfte, um auch nur den geringsten Erfolg zu erzielen. Die Begegnung unserer Eltern, die Interessen und Stärken, die uns in die Wiege gelegt wurden, die Unversehrtheit des Körpers, die Funktion der Organe, die Einfälle, die wir im richtigen Moment hatten, das Zusammenspiel von Raum und Zeit, das uns zu den richtigen Menschen, Orten und auf Ideen brachte, die Menschen, die uns auf unserem Weg ermutigten und motivierten.
All diese vermeintlichen Zufälle waren nötig, um heute Morgen aus dem Bett zu steigen, erst recht, um irgendwelche Erfolge zu erzielen.
Das Judentum glaubt nicht an Zufälle. Jeder Zufall ist das Schicksal, und hinter dem Schicksal steht die Hand G’ttes, die unser aller Leben führt und uns die Erfahrungen des Lebens schenkt.
Wer hinter all den Segen des Lebens die Hand des Schöpfers sieht, wird dankbar. Überheblichkeit und Arroganz sind angesichts unserer unermesslichen Abhängigkeit einfach nur fehl am Platz. Hingegen ist Dankbarkeit die adäquate Reaktion auf den uns zuteilgewordenen Segen.