»Der Nichtjude Proclus stellte Rabban Gamliel in Akko eine halachische Frage, als dieser gerade nackt im örtlichen Badehaus badete. Da sagte ihm Rabban Gamliel: (Wegen der Nacktheit) darf man im Badehaus keine halachischen Fragen beantworten« (Mischna, Awoda Sara 3,4).
Der Talmud konfrontiert uns hier mit der vielleicht zunächst überraschend klingenden Regel, dass menschliche Nacktheit und die Heiligkeit, die in der Tora und ihrer Halacha enthalten sind, nicht zusammengebracht werden sollen. Während des Studiums der heiligen Schriften sowie der mündlichen Überlieferungen der g’ttlichen Offenbarung darf man sich also nicht entblößen.
Bei genauerem Hinschauen stellt sich heraus, dass diese hier von unseren Weisen aufgestellte Norm eine bereits im Tanach verankerte Idee ist, die die weitere jüdische Tradition entscheidend prägen sollte.
Nach der Gemara hat sich bereits König David diese Frage gestellt, als er sich im Badehaus befand.
Gleich zu Beginn der Tora begegnet uns bekanntlich schon die Nacktheit: »Und der Mensch und seine Frau waren beide nackt – und sie schämten sich nicht« (1. Buch Mose 2,25).
Dieser Vers möchte uns nicht nur darauf hinweisen, dass die ersten Menschen im Garten Eden noch keine Kleidung hatten. Vielmehr findet sich darin auch eine Kritik an eben dieser Nacktheit, vor allem im Angesicht G’ttes, der ja der Herr des Paradieses war. Dass Scham vor der eigenen und fremden Nacktheit »gut« ist, wird dabei von der Tora schlicht vorausgesetzt.
Nacktheit Was auch immer der Ursprung dieses Tabus sei, nach der Tora gilt auf jeden Fall das »kal-wachomer«, das »a fortiori«-Prinzip, dass, wenn man sich seiner Nacktheit schon vor geschaffenen Menschen schämen sollte, dann umso mehr vor dem Ewigen, dem Schöpfer des Alls.
Im späteren Verlauf der Tora hören wir daher noch öfter, dass, wer sich in der Gegenwart der Schechina, also der sich auf Erden manifestierenden Präsenz des Ewigen, aufhält, seine Blöße unbedingt zu bedecken habe.
So ordnet G’tt bei der Offenbarung am Sinai an, dass die unten am Berg zum Bundesschluss zu errichtenden Altäre keine Stufen haben durften. Denn wären die Priester, die damals noch keine Hosen, sondern nur durch einen Gürtel geschlossene Roben trugen, auf den Altar gestiegen, wäre diese heilige Stätte dem nach unten geöffneten Schambereich der Priester ausgesetzt worden (2. Buch Mose 20,23).
Das Schma Jisrael soll nicht nackt oder im Angesicht von fremder Nacktheit zitiert werden.
Später dann, als das Stiftszelt errichtet wird, ordnet die Tora an, dass die Priester unter ihren Roben lange Hosen tragen müssen, »um die Scham zu bedecken« (28,42). Ebenso verbietet es die Tora, in der Nähe der Bundeslade nackt zu sein, sei es auch nur, um die Notdurft zu verrichten (5. Buch Mose 23,15).
Auf Grund dieser Richtlinien ist es konsequent, dass die talmudischen Weisen später ausdrücklich verboten haben, das Schma Jisrael nackt oder im Angesicht von fremder Nacktheit zu rezitieren (Schabbat 150a). Denn eben wie das Stehen am Altar oder an der Lade ist auch das Gebet eine Form der Annäherung an G’tt, die mit tiefer Ehrfurcht erfolgen sollte – also nicht nackt.
Kleidung Da die jüdische Tradition auch das Studium der Tora als einen ehrwürdigen und intimen Dienst am Ewigen betrachtet, konnte also Rabban Gamliel seinem Zeitgenossen entgegnen, dass man sich über halachische Sachverhalte besser nicht ohne Kleidung austauscht.
Für unsere Weisen, deren Alltag von besonderer Frömmigkeit gekennzeichnet war, erzeugt dies allerdings sofort eine Folgefrage: Da der Mensch aufgefordert ist, immer mit seinem ganzen Wesen und Schaffen dem Ewigen zu dienen, wie dient er da G’tt in den Momenten, in denen er nackt ist? Lernen darf er ja nicht, beten auch nicht, und sogar Zizit und Tefillin trägt er nicht.
Nach der Gemara habe sich bereits König David diese Frage gestellt, als er sich im Badehaus befand. Die Antwort, die er fand: Zumindest die Männer haben ja die Beschneidung, die ihnen auch bleibt, wenn sie nackt sind. Da freute sich der König und verfasste sogleich – natürlich erst, nachdem er das Badehaus wieder verlassen hatte – ein Loblied auf den Ewigen (Menachot 43b).