Wenn ich Jungen auf ihre Barmizwa vorbereite, frage ich sie unter anderem auch nach ihrem Traumberuf und nach ihren Vorbildern. Mehr als die Hälfte von ihnen will Profifußballer werden. Es verwundert daher nicht, dass unter den Vorbildern häufig einer der bekannten Weltfußballer auftaucht.
Meist ist es einfach der Umstand der Bekanntheit, der Promi-Faktor, bedingt durch ein besonderes Können, der dazu führt, dass aus Prominenz Vorbildfunktion wird. So können wir seit Jahrzehnten erleben, dass Fußballer, Sänger und Schauspieler – vor allem, aber nicht ausschließlich – von Jugendlichen angehimmelt werden. Wie steht das Judentum dazu? Befürwortet es solche Phänomene in der Gesellschaft?
Lehrer Nicht umsonst wird die Tora, der Leitfaden jüdischen Lebens, auch die fünf Bücher Mose genannt. Nicht nur, weil unser Lehrer und größter Prophet Mosche uns die Tora überbrachte. Zu Beginn des allerletzten Wochenabschnitts wird Mosche als »Mann G’ttes« bezeichnet, eine Auszeichnung, die sonst keinem anderen Menschen in der Tora zuteilwird. Unsere Weisen sehen darin den Hinweis, dass Mosche, obschon durch und durch Mensch, auf dieser Ebene zur Hälfte menschlich und zur Hälfte bereits g’ttlich, also G’tt näher, war.
Die Tora möchte uns mit dem Ausdruck »Mann G’ttes« deutlich machen: Seht her, dies ist der Mensch, von dem ihr lernen könnt und sollt – euer ultimatives Vorbild!
Doch wie kam Mosche zu dieser Ehre? Wie kam es dazu, dass G’tt ihn dazu auserwählte, das jüdische Volk aus Ägypten zu führen, ihm die Tora zu überbringen und somit die jüdische Volkswerdung sowohl physisch als auch spirituell für alle Ewigkeit mit zu formen und zu prägen?
Anhand einzelner Begebenheiten aus dem Leben Mosches in seinen jüngeren Jahren (bis zu seiner ersten Begegnung mit G’tt) zeigt die Tora den Charakter dieses Mannes auf, der sich schon damals die wichtigen Qualitäten eines wahren Vorbilds angeeignet hatte.
Empathie Mosche war empathisch. Die Tora berichtet, dass er, als er zum Mann herangewachsen war, zu seinen Brüdern hinausging und deren Lastarbeit, deren Leiden sah (2. Buch Mose 2,11). Raschi (1040–1105) erklärt hierzu, dass Mosche ihre Leiden so intensiv betrachtete und sich zu Herzen nahm, dass er ihre Bedrängnis tatsächlich mitfühlte! Der »ägyptische Prinz«, den eine vielversprechende Karriere am Hofe Pharaos erwartete, verstand es, an den Leiden seines Volkes so sehr teilzunehmen und sie derart zu »verinnerlichen«, dass er sie selbst – an seinem eigenen Körper – fühlte und an der Lastarbeit mit ganzer Seele mittrug.
Mosche hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Dies erfahren wir anhand von drei direkt aufeinanderfolgenden Situationen, in denen Mosche auf verschiedene, ihnen jeweils angemessene Art eingreift, um für Recht zu sorgen.
In der ersten Situation wurde Mosche Zeuge, wie ein ägyptischer Mann einen hebräischen Sklaven schlug. Er sah sich um, konnte aber keinen Menschen entdecken, der sich für den machtlosen Geschlagenen einsetzte, so schlug er den Ägypter und erwies sich als mutiger Helfer der Unterdrückten (2, 11–12).
Am nächsten Tag stritten zwei hebräische Männer. Auch hier griff Mosche beherzt ein, um zu schlichten und den Frieden wiederherzustellen (13–14). Doch blieben diese Geschichten nicht ohne Folgen. Pharao wollte Mosche für sein Handeln töten lassen, und dieser floh. Im weit entfernten Midjan musste er erneut Ungerechtigkeit erleben, als Hirten die Töchter Jitros von einem Brunnen vertrieben.
Die Kommentatorin Nechama Leibowitz (1905–1997) weist darauf hin, wie naheliegend es für Mosche gewesen wäre, sich herauszuhalten, handelte es sich doch, im Gegensatz zu den ersten Begebenheiten, um völlig fremde Personen. Außerdem war ein Eingreifen noch gefährlicher als schon in Ägypten, da Mosche nun ein völlig schutz- und rechtloser Fremder war. Doch Mosches purer Gerechtigkeitssinn ließ trotz aller logischen Gegenargumente auch in dieser Situation nicht nach, und dank seines erneuten beherzten Einschreitens kamen die Vertriebenen zu ihrem Recht.
Bescheidenheit Mosche war bescheiden. Die nächste Geschichte führt uns direkt zum brennenden Dornbusch. G’tt beauftragt Mosche mit der historischen Aufgabe, das unterdrückte und versklavte Volk Israel endlich in die lang ersehnte Freiheit zu führen, und muss sieben (!) Tage damit verbringen, Mosche dazu zu bewegen, diese Aufgabe anzunehmen. Obwohl G’tt höchstpersönlich der Auftraggeber ist und die Aufgabe Mosche nicht nur sinnvoll und erhaben, sondern absolut notwendig erscheinen muss, lehnt er standhaft ab. »Wer bin ich denn schon« (3,11), fragt Mosche G’tt und sich selbst, »dass ich die Kinder Israels aus Ägypten führen könnte?«
Diese Worte entspringen direkt dem bescheidenen Wesen, das in Mosche ruhte und auch Jahre später erhalten blieb, weswegen die Tora ihn als bescheidensten aller Menschen bezeichnet (4. Buch Mose 12,3).
Fehler Doch bei aller spirituellen und charakteristischen Vollkommenheit handelt es sich bei unseren Vorbildern stets um Menschen. Und Menschen sind nicht unfehlbar. Sogar unser großes Vorbild Mosche irrte und sündigte (4. Buch Mose 20, 12–13; 27, 12–14). Die Tora verdeckt dies nicht, sondern macht es ganz bewusst mehrfach deutlich. Denn Vorbild zu sein, heißt nicht nur, nach Vollkommenheit zu streben, sondern ebenso, mit Fehlern richtig umzugehen.
Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde ausgerechnet Jehuda zum Anführer aller Stämme Israels auserkoren, und aus seiner Mitte erwarten wir Maschiach, den Erlöser. Als Vierter der Söhne Jakows war er hierzu wohl kaum von Geburt an prädestiniert. Doch gerade in seiner größten Krise bewies Jehuda Größe, menschliche Größe! Er, der durch sein charismatisches Auftreten Anerkennung und Bewunderung erfuhr, gestand sich und der Öffentlichkeit gegenüber direkt und ehrlich sein Fehlverhalten ein.
Als er mit dem Unrecht, das er seiner Schwiegertochter Tamar angetan hatte, konfrontiert wurde, stellte er mit zwei Worten klar: »Zadka mimeni!« – »Sie ist gerechter als ich!« (1. Buch Mose 38,26). Er tat dies ohne äußere Notwendigkeit, ohne öffentlichen Druck. Der Weg der Leugnung stand ihm offen, womit er sein Gesicht hätte wahren können.
Auch Jehudas Nachkomme König David sah seine Fehler ein. Ohne Umschweife und Ausreden bereute er die höchst beschämende Sünde an Batschewa, als der Prophet sie ihm vor Augen hielt: »Ich habe gegen G’tt gesündigt!« (Samuel II 12,13). Es war deswegen, dass er seinen Anspruch auf den Thron nicht verlor, im Gegensatz zu seinem Vorgänger König Schaul, der nicht fähig war, seine Sünde wirklich einzusehen.
Jehuda aber und seine Nachkommen konnten Fehler eingestehen und sie durch wirkliche Umkehr korrigieren, anstatt an ihnen moralisch zu zerbrechen: »Denn fällt der Gerechte siebenmal, er erhebt sich dennoch, aber die Frevler stürzen in Unheil« (Sprüche 24,16).
Leitfaden Der Leitfaden der Tora zeigt auf, was Vorbilder zu wirklichen Vorbildern macht. Prominenz und Vorbildfunktion sind nicht identisch. Nicht die Bekanntheit, sondern das moralische Verhalten einer Person sollte bestimmen, ob deren Verhalten nachzuahmen ist. Gleichzeitig sollten sich Prominente ihrer manchmal sogar ungewollten Vorbildfunktion bewusst sein und sich dementsprechend verhalten.
Wenn ich bei den Barmizwa-Jungen nachhake und mich erkundige, weshalb sie in den Fußballern Vorbilder sehen, beginnen sie oft zu überlegen. Manchmal wird der Zusammenhang damit begründet, dass das Idol besonders teamfähig ist und sich ausgesprochen gut um seine Kollegen kümmert, oder dass es sich durch Selbstdisziplin und Zielstrebigkeit auszeichnet. In solchen Momenten glaube ich erkennen zu können, dass die Jungen in ihrem Denken auf dem Weg zu ihrer Barmizwa wieder einen kleinen, vielleicht recht bedeutenden Schritt reifer geworden sind.