Medizinische Experimente haben für Juden angesichts der Erfahrungen in den Konzentrationslagern eine besonders negative Konnotation. Wir dürfen jedoch nicht die Augen vor der Realität verschließen: Versuche an Menschen zur Erprobung von Medikamenten oder zur Bewertung neuer Behandlungsstrategien sind manchmal unverzichtbar.
Diese Versuche werden in der westlichen Welt meist sehr sorgfältig vorbereitet. Dennoch geht gelegentlich etwas schief. Im Londoner Northwick Park Hospital ereignete sich vor über einem Jahrzehnt eine Tragödie: Sechs gesunde Menschen zwischen 18 und 40 Jahren erkrankten aufgrund unerwarteter Nebenwirkungen eines Abwehrstoffes tödlich. Das Mittel wurde getestet, um zu sehen, ob es für Menschen sicher war. Der Test, der sofort eingestellt wurde, war jedoch nach Vorschrift verlaufen. Vorausgegangen waren verpflichtende Tierversuche.
Moral Bereits 1966 hatte der Anästhesist Henry K. Beechers mit seinem Artikel »Ethics and Clinical Research« im »New England Journal of Medicine« die Welt aufgerüttelt. Das umstrittene Papier befasste sich mit 22 Experimenten offizieller Institute – von privaten Krankenhäusern bis zu Veteranenkliniken –, in denen die Versuchspersonen an Nebenwirkungen von medizinischen Experimenten litten. Es sei klar, dass die Forscher die Gesundheit und das Leben der Patienten gefährdet hätten, so der Autor. Auch wenn die Versuchspersonen gut informiert waren, blieben Versuche am Menschen ein moralisches Problem.
Andererseits ist ein Mindestmaß von Untersuchungen zum Fortschritt der medizinischen Forschung unabdingbar. Die Frage ist: Inwieweit und unter welchen Umständen sind diese Experimente ethisch vertretbar? In medizinischen Experimenten werden die Forscher selbst ein wichtiger Bestandteil des Gesamtrahmens.
Man muss erfahrene, mitfühlende und verantwortungsbewusste Wissenschaftler ambitionierten Doktoranden vorziehen, die nur befördert werden wollen und Gefangene oder andere Freiwillige durch Geld oder Unterstützung verführen, was letztlich das gesamte Konzept der freiwilligen Teilnahme untergräbt. Interviews zeigen, dass die meisten studentischen Probanden nicht in der Lage sind, die Forschungsrisiken richtig einzuschätzen.
PockenImpfung Einer der Pioniere der medizinischen Forschung, der amerikanische Arzt Edward Jenner (1749–1823), testete die Pockenimpfung an seinem ältesten Sohn und an Nachbarskindern. Mit der Entdeckung des Pockenimpfstoffs begann die Präventivmedizin. Der deutsche Arzt Johann Jörg (1779–1856) verwendete sich selbst als Testperson, als er 17 Medikamente auf ihre Wirksamkeit überprüfen wollte. Bereits ab 1890 wurden vor allem in Deutschland Versuche an Krankenhauspatienten durchgeführt, die unwissend mit Mikroorganismen verschiedener Geschlechtskrankheiten kontaminiert waren.
1943 und 1944 wurden in Chicago 500 Häftlinge und 450 psychotische Patienten mit Malaria infiziert – einer Krankheit, mit der sich viele US-Soldaten im Krieg gegen Japan ansteckten. Obwohl die Testpersonen leiden mussten, forderte die öffentliche Meinung, dass alle ihren Beitrag zur Kriegsführung beitragen sollten. Die »New York Times« beglückwünschte sogar die »ehemaligen Feinde der Gesellschaft« zu ihrer Bereitschaft, denn sie hätten gezeigt, dass dieser Krieg von jedem unterstützt werden sollte. Experimente am Menschen sind oft Gegenstand hitziger Debatten, auch wenn die körperliche oder geistige Unversehrtheit gewährleistet ist.
Der ehemalige britische Oberrabbiner Immanuel Jakobovits, den ich vor 45 Jahren kennenlernte, eröffnete die ethische Diskussion im traditionellen Judentum mit der Veröffentlichung seiner »Zehn Thesen«, die die jüdische Ethik der Experimente am Menschen zusammenfassen.
Seine Thesen sind die folgenden:
1. Das Leben an sich hat höchste Priorität. Grundsätzlich ist jedes Leben gleich viel wert. Deshalb ist das Judentum gegen aktive Sterbehilfe, nicht medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch und die Opferung von Geiseln zur Rettung anderer.
2. Jede Möglichkeit, ein Leben zu retten, muss um jeden Preis verfolgt werden. So wird die Rettung eines Lebens über die Einhaltung des Schabbats gestellt, auch wenn es ungewiss ist, ob die lebensrettende Handlung gelingen wird. Nur in hoffnungslosen Situationen ist es erlaubt, »zweifelhafte« Operationen durchzuführen oder experimentelle Medikamente zu verabreichen, solange sich eine Hoffnung auf Erfolg bietet.
3. Jeder ist verpflichtet, andere vor jeder Gefahr für Leben und Gesundheit zu schützen. Jeder ist verpflichtet, im Falle einer tödlichen Gefahr Hilfe zu leisten oder jede andere Gefahr zu verhindern oder zu beseitigen. Wenn man selbst kein Risiko eingeht, muss man helfen. Verweigerung der medizinischen Hilfe wird mit Blutvergießen verglichen.
4. Jedes Leben ist gleichwertig und unantastbar, unabhängig davon, ob der Betroffene gut oder böse ist, weil alle Menschen nach dem Bild G’ttes geschaffen sind.
5. Man soll das Leben nicht für einen anderen oder eine Gruppe anderer opfern. Da jedes Leben heilig und gleichwertig ist, sollte man niemals das Leben eines anderen nehmen, um sein eigenes Leben zu retten (außer bei Selbstverteidigung). Man sollte auch nicht sein eigenes Leben opfern, um das Leben eines anderen Menschen zu retten. Der Talmud leitet diese Gesetzgebung aus der logischen Frage ab: »Woher weißt du, dass dein Blut wichtiger ist als das deines Nachbarn?« – und umgekehrt!
6. Niemand hat das Recht, sein Leben oder seine Gesundheit zu gefährden.
7. Niemand hat das Recht, seine eigene Gesundheit oder die anderer zu schädigen, außer zu therapeutischen Zwecken. Nach jüdischem Recht ist der menschliche Körper heilig. Es ist daher nicht erlaubt, dem Körper zu schaden, auch nicht mit Erlaubnis. Amputationen dürfen nur durchgeführt werden, wenn die Gesundheit des gesamten Körpers gefährdet ist.
8. Niemand hat das Recht, medizinische Hilfe abzulehnen. Ein Arzt sollte eine Operation durchführen, wenn dies der letzte Ausweg ist, unabhängig von der Meinung des Patienten.
9. Maßnahmen, die eine unmittelbare Lebensgefahr darstellen, sollen nur getroffen werden, um den Tod zu verhindern. Jede Handlung, die bei einem todkranken Patienten auch nur eine winzige Hoffnung auf Besserung bietet, ist erlaubt, von experimentellen Medikamenten bis hin zu riskanten Operationen.
10. Die Verwendung von Versuchstieren ist eingeschränkt erlaubt. Tierversuche sind erlaubt, sofern sie medizinisch sinnvoll und für das menschliche Wohlbefinden förderlich sind. Dabei soll das Tier so wenig wie möglich geschädigt und seine Schmerzen minimiert werden. Tierversuche dürfen nur zugelassen werden, wenn keine anderen zuverlässigen Informationsquellen zur Verfügung stehen.
Einwilligung Aus diesen Aussagen können wir folgende Schlussfolgerungen ziehen: 1. Potenziell schädliche Experimente dürfen am Menschen durchgeführt werden, wenn sie zur Gesundheit des Patienten selbst beitragen können, so gering diese Möglichkeit auch sein mag.
2. Wenn es keine sicheren Verfahren für Patienten mit einer tödlichen Krankheit gibt, besteht die Verpflichtung, experimentelle Maßnahmen anzuwenden, um den Tod möglichst zu verhindern.
3. Es ist unethisch, sich selbst gefährlichen Experimenten zu unterziehen oder andere für diese Tests zu rekrutieren.
4. Wenn ein nützliches Experiment weder dem Leben noch der Gesundheit schadet, ist jeder zur Zusammenarbeit verpflichtet. Unter Umständen könnten solche Experimente auch ohne Einwilligung des Patienten durchgeführt werden, sofern eine erhebliche Chance auf Besserung besteht.
5. Bei der Behandlung von Patienten wird dem Arzt das letzte Wort zugesprochen, ganz gleich, was sich der Patient wünscht. Ärzte sind verpflichtet, alles zu veranlassen, was zu einer Verbesserung der Gesundheit und Lebensqualität führen kann.
6. Soweit möglich, sollten gründliche Untersuchungen und Medikamententests an Tieren durchgeführt werden. Voraussetzung dafür ist die Verbesserung der Gesundheit der Menschen.
Man muss bedenken, dass Oberrabbiner Jakobovits seine Thesen vor über 50 Jahren formuliert hat. Inzwischen ist die Zustimmung eines Patienten Voraussetzung für jeden medizinischen Eingriff und somit auch für medikamentöse Experimente.
Tierschutz Wie steht die Tora zum Leiden der Tiere, das menschliches Leid verhindern soll? Meiner Meinung nach ist die Tora das erste Dokument, das sich ernsthaft mit den Rechten der Tiere befasst. Beispiele dafür sind der verpflichtende Ruhetag, die Fütterung von Tieren, bevor der Mensch selbst sich zum Essen zu Tisch setzt, das strikte Verbot der Jagd und Tötung von Tieren sowie die Anweisung, das Leid der Tiere so weit wie möglich zu verhindern.
Aus Sicht des Judentums ist es nur dann erlaubt, Tieren Leid zuzufügen, wenn es wirklich notwendig ist, um unsere Gesundheit zu schützen, oder wenn wirtschaftliche Gefahren drohen. In der Halacha führt die Abwägung menschlicher Interessen gegen tierische Interessen zu der Schlussfolgerung, dass Tierversuche Versuchen an Menschen vorzuziehen sind. Obwohl die Tora ausdrücklich verbietet, Tieren Leid zuzufügen, werden Menschen in der Halacha höher als Tiere angesehen.
Die europäische Gesetzgebung zu medizinischen Experimenten stellt den Einzelnen in den Mittelpunkt. Dies spiegelt sich unter anderem in der Anforderung zur Zustimmung wider, die sehr umfassend umgesetzt wird und eine Folge des allgemein akzeptierten Selbstbestimmungsrechts ist.
Die Halacha ist jedoch stärker um das Gemeinschaftsinteresse besorgt. Da es jedermanns Pflicht sei, anderen aus einer Notsituation herauszuhelfen, sei auch jeder dazu verpflichtet, an risikofreien Experimenten teilzunehmen, meint Rabbiner Jakobovits. Logischerweise darf es nicht unethisch sein, wenn die Testpersonen auch ohne Erlaubnis oder Wissen untersucht werden. Dies setzt voraus, dass Forschungsergebnisse auf keinem anderen Wege erzielt werden können und dass sie einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit leisten. Heute ist dies aufgrund des Erfordernisses der Zustimmung nicht mehr möglich.
Knochenmarkspende Sehr weitreichend wäre dann die Schlussfolgerung, dass es ethisch vertretbar wäre, etwa Kindern auch ohne ihre Einwilligung eine Knochenmarkspende zu entnehmen, vorausgesetzt, die Operation stellt kein Gesundheitsrisiko dar. Ein Argument dafür könnte sein, dass eine Knochenmarkspende für Minderjährige weniger belastend ist als für Erwachsene. Interessanterweise hat ein Europäischer Rat für Organspenden in einer Stellungnahme von 1990 diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen, wenn auch unter strengen Bedingungen.
Laut Oberrabbiner Jakobovits unterscheidet die Halacha klar zwischen harmlosen und weniger harmlosen Experimenten. Ein neuartiger Aspirin-Test ist weniger lebensbedrohlich als eine aggressive neue Therapie gegen Krebs. In jedem Fall sollte das (geringe) Risiko für die Probanden gegen die erwarteten Ergebnisse abgewogen werden. In jüdischen Quellen wurde bereits über die Frage diskutiert, welches Risiko man eingehen darf oder sollte, um Dritte zu retten.
Das Judentum kennt das Selbstbestimmungsrecht nicht – man ist also kein »Herr über seinen eigenen Körper«. Bei Experimenten, die dauerhafte Verletzungen verursachen können, sind die halachischen Vorschriften streng. Patienten oder Testpersonen sollten nur dann daran teilnehmen dürfen, wenn sie selbst davon profitieren oder wenn es einen direkten Nutzen für die Rettung des Lebens Dritter gibt.
Da es im Judentum kein Selbstbestimmungsrecht gibt, gilt für Patienten in der Sterbephase, dass der Arzt in Ermangelung einer besseren Behandlungsmethode auch noch nicht voll erprobte Medikamente verabreichen darf, um den Tod zu verhindern. Rav Jakobovits glaubt, dass die Meinung der medizinischen Experten hier entscheidend ist – manchmal stärker als der Wunsch des Patienten, denn es ist die Aufgabe des Arztes, das Leben seiner Patienten zu retten.
Forschungsgruppe Manchmal wird bei einem Experiment auf die Gleichberechtigung der Versuchspersonen geachtet. Beispielsweise erhalten 500 Patienten der Forschungsgruppe A das Medikament X und 500 Patienten der Gruppe B das Medikament Y.
Ist es gerechtfertigt, die Gruppe B drei Wochen länger leiden zu lassen, nur um ein klareres Forschungsergebnis zu erhalten? Ich denke, das sollte nur erlaubt sein, wenn es eine Kontroverse zwischen Wissenschaftlern darüber gibt, ob Medikament X tatsächlich besser ist als Medikament Y. Die Halacha schließt sich dem an: Der Patient steht im Mittelpunkt. Die Forschung kommt an zweiter Stelle.
Der Autor ist Dajan beim Europäischen Beit Din, Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).