Polen brannte in den Jahren 1648 bis 1649 lichterloh. Mit Feuer und Schwert zogen die Kosaken unter Führung ihres Hetman Bogdan Chmielnicki über das Land, um Kleinstädte zu überrennen und Dörfer niederzubrennen. Der seit Jahrzehnten aufgestaute Hass der Kosaken entlud sich in blutigen Exzessen gegen jene, denen sie Schuld daran gaben. Neben polnischen Adligen und Katholiken bekamen die jüdischen Schtetl die Wut der Rebellen zu spüren: Kinder, Frauen und Männer wurden bei dem Rachefeldzug zu Tode gequält, gekreuzigt oder verbrannt.
Sehnsucht Historiker und jüdische Gelehrte sehen in den »Chmielnicki-Massakern« einen der Gründe für die in jenen Jahren wachsende »Messiassehnsucht« bei den osteuropäischen Juden. Tatsache ist, dass sowohl die Zahl der bis dahin aufgetauchten Erlöser als auch deren Erfolg bei der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa eher gering war. Unter dem Einfluss der Ereignisse der Chmielnicki-Kosaken stand auch der 1626 in der Türkei geborene Schabtai Zwi, der in der Folge viele Menschen in seinen Bann zog und als »Pseudo-Messias« in die Geschichte des Judentums einging und 1676 starb. Sein Einfluss auf die aschkenasischen und sefardischen Gläubigen ist unbestritten.
In seiner ausführlichen und bahnbrechenden Biografie über Schabtai Zwi hat Gershom Scholem (1897–1982) die Vermutung geäußert, dass das oft bizarre Verhalten des falschen Messias auch an einer psychiatrischen Erkrankung lag. Der für seine Übertretung der Religionsgesetze bekannte Mann, der in Jerusalem agierte, habe an einer manisch-depressiven Störing gelitten. Worum handelt es sich dabei?
Eine manisch-depressive Erkrankung bewegt sich als affektive Veränderung der Stimmungslage zwischen zwei Extremen: der Manie und der Depression. Dazwischen finden sich alle Möglichkeiten von Gefühlsäußerungen. Es gibt Patienten, die über längere Zeiträume einen vollkommen gesunden Eindruck vermitteln.
Viele haben schnell wechselnde, manchmal an einem Tag von Manie in Depression (sogenannte Rapid Cycler) übergehende Zustände. Andere fallen nur in eine leichte Depression und eine leichte Manie, Hypomanie, euphorische Stimmungslage, Manie mit leichter Depression. Es gibt eine Fülle von Varianten der Stimmungslage.
Bipolar Auffallend ist bei Schabtai Zwis Biografie der Wechsel zwischen hochgehobener, manisch anmutender Stimmung und Zeiten starken Rückzugs, Schweigsamkeit, Melancholie wie bei einer Depression. Die Phasen kommen und gehen und sind nicht vorhersehbar. Alles dies passt aus der Distanz heutiger Betrachtung zu einer manisch-depressiven Krankheit, oder wie wir Psychiater heute sagen, zu einer bipolaren Störung. Der eine Pol ist die Manie, der andere die Depression.
Gershom Scholems Schabtai Zwi-Biografie (Sabbatai Zwi. Der mystische Messias. Jüdischer Verlag, Frankfurt 1992), auf die ich mich beziehe, ist hinsichtlich Quellenstudium und Quellenmaterial unerreicht. Trotzdem muss ich mir die Frage stellen, ob die Behauptung, der falsche Messias sei bipolar erkrankt gewesen, überhaupt statthaft ist. Außerdem stellt sich die Frage, wozu sie dient. Will ich damit meine diagnostischen Fähigkeiten unter Beweis stellen, einer Gestalt des 17. Jahrhunderts 2011 eine Diagnose stellen zu können? Sicherlich nicht.
Es gibt eine Reihe von Psychiatern, die fast alle aus den USA kommen, die den von Gershom Scholems geäußerten Verdacht auf eine psychiatrische Krankheit des falschen Messias bestätigten und eine bipolare Störung diagnostizierten. Es ist, wie ich meine, durchaus relevant, dass zumindest die Möglichkeit besteht, Schabtai Zwi sei psychisch krank gewesen. Sein Verhalten erscheint dadurch in einem ganz anderen Licht. Und deshalb ist es auch von historischer Bedeutung. Schabtai Zwis Motive für seinen Messianismus werden verschieden bewertet: Einige sagen, er sei davon selbst überzeugt gewesen, andere meinen, er habe nur reinen Machtwillen gehabt, wieder andere sind von finanziellem Gewinnstreben überzeugt. Es gibt wahrscheinlich noch mehr Spekulationen über seine Motive; oft kommen mehrere zusammen.
Wäre Schabtai Zwi aber psychisch krank gewesen, Opfer einer bipolaren Störung, so wäre vieles an seinem Verhalten besser zu verstehen und mit entsprechender Empathie zu erfassen.
Der Autor ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Hamburg.