Rabbi Jehuda Aschlag wurde vor 140 Jahren in der heute polnischen, damals zum russischen Zarenreich gehörenden Stadt Lukow geboren. Der junge Jehuda hatte seit seiner Kindheit eine starke Affinität zur jüdischen Mystik und soll bereits als Siebenjähriger Blätter aus kabbalistischen Büchern in seinem Talmud versteckt haben, um sie heimlich zu studieren – dies ist in der jüdischen Tradition nämlich nur erfahrenen Erwachsenen vorbehalten.
Bereits im Alter von 19 Jahren waren Aschlags Kenntnisse der Tora so tiefgreifend, dass die Rabbiner von Warschau ihn ordinierten. Neben seinem religiösen Studium beschäftigte sich der junge Rabbiner auch mit den Schriften von Hegel, Marx, Nietzsche und Schopenhauer.
Rav Aschlag zeigt: G’tt hat uns erschaffen, um uns zu lieben.
In den darauffolgenden Jahren begegnete Rabbiner Aschlag einem mysteriösen Lehrer, dessen Namen er nie offenbarte. Dieser Lehrer stellte sich als Unternehmer aus Warschau vor und lehrte Aschlag die Geheimnisse der Kabbala. Nach dem Tod des Lehrers, der genauso mysteriös scheint wie seine Lehre, wanderte Rabbiner Aschlag im Jahr 1921 nach Eretz Israel, in das damalige Mandatsgebiet Palästina, aus. Er ging einfachen Arbeiten nach, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, und verzichtete viele Jahre lang auf eine rabbinische Position. In den Nächten aber vertiefte er sich in mystische Texte.
1943 begann Rabbiner Aschlag seine Arbeit an einem revolutionären Kommentar zum Zohar, dem Hauptwerk der Kabbala. Er arbeitete lange und intensiv. Als er fertig war, hatte sich der junge israelische Staat gegründet und bereits einen Krieg ausgefochten. Den Kommentar nannte er Sulam (Leiter), daher wird Rabbiner Aschlag später von vielen auch »Baal haSulam« – Meister der Leiter – genannt. Rabbiner Aschlag kommentierte auch die Werke des berühmten Kabbalisten Rabbi Itzhak Luria Aschkenazi und schrieb viele weitere Artikel und Bücher.
Obwohl der Baal haSulam in der Tradition der früheren Mystiker steht, war seine Systematisierung der kabbalistischen Ideen, ihre Verbindung zu Philosophie, Wirtschaft und Psychologie, die Klarheit seiner Sprache und die Popularisierung der kabbalistischen Werke eine Innovation in der Welt der jüdischen Mystik.
Die Quintessenz von Rabbiner Aschlags Lehren kann man in seinem Vorwort zum Zohar nachlesen. Rav Aschlag beschreibt die gesamte Sinngeschichte des Menschen, im ständigen Rückbezug auf die Tora und frühere rabbinische Quellen, wie folgt: G’tt ist die Liebe, und die Liebe will lieben. Lieben heißt, Gutes zu geben, ohne dafür etwas zurückzuerwarten. Allerdings war zunächst nur G’tt allein existent. Darum erschuf er Raum und Zeit, um die Wesen (unsere Seelen) darin existieren zu lassen. So erst konnte er uns lieben, also uns Gutes geben. Die Liebe G’ttes bleibt ohne uns als Empfänger nur theoretischer Natur.
Das Gute, das der Schöpfer den von ihm erschaffenen Wesen geben will, ist die ewige Freude und unendliche Glückseligkeit, die wir in »Olam Haba«, der kommenden Welt, erleben werden. Die Freude von auch nur einem Moment in der Olam Haba ist größer als all die Freuden, die ein Mensch im Diesseits spüren könnte, selbst wenn all seine körperlichen und emotionalen Bedürfnisse ewiglich befriedigt würden. Denn die Freude wird in der kommenden Welt durch die Nähe der Seele zu ihrem Schöpfer ausgelöst, da er die Quelle aller Freuden und Glückseligkeiten ist.
Da G’tt eine schöpfende Kraft ist und wir in seinem Ebenbild erschaffen wurden (ansonsten wäre die echte Nähe nicht möglich), ist es so, dass die Dinge, die wir uns selbst erschaffen – die Dinge, nach denen wir zuvor schmachteten und durch unsere Werke herbeiführen –, uns mehr Genuss bringen als die Dinge, die uns einfach zufallen.
G’tt erschuf daher die irdische Welt, in der wir uns befinden, als eine Art Trainingsort, um sich Olam Haba, die kommende Welt – also seine Nähe, den ewigen Genuss –, zu erarbeiten. All dies tat er, weil er uns mehr genießen lassen wollte. G’tt hat ein System erschaffen, um uns an seiner Vollkommenheit in Ewigkeit teilhaben zu lassen. Der Akt der Schöpfung ist folglich ein Akt des völligen Altruismus.
Doch wie erarbeitet man sich die Nähe G’ttes? Rabbiner Aschlag benutzt hier den Ausdruck »Haschwaat HaZura« – »Wesensangleichung«. Denn während in der physischen Welt Entfernungen in Kilometern berechnet werden, werden in der geistigen Welt die Entfernungen in Ähnlichkeiten gemessen. Wenn G’tt der absolute Altruist ist, das Geben ohne Eigeninteresse verkörpert, unendlich liebt, dann ist die Nähe zu ihm die Wesensähnlichkeit. Je altruistischer, liebevoller, gebender wir werden und je weniger wir unserer egoistischen Seite nachgeben, die nur nehmen will, desto mehr sind unsere Seelen G’tt ähnlich. So kommen wir ihm nah und können die Ewigkeit mehr und mehr genießen.
Manchmal ist aufrichtiges Annehmen wertvoller, als einfach zu geben.
Aschlag unterscheidet zwischen vier Arten des Gebens und Nehmens. Erstens: nehmen, um zu nehmen. Gleich einem Dieb, der stiehlt, um zu erlangen, ohne Rücksicht auf sein Opfer. Zweitens: geben, um zu nehmen. Gleich einem Arbeiter, der seine Arbeitszeit gibt, aber nur, um Lohn zu erhalten, um sich selbst Dinge zu kaufen. Das Geben ist in diesem Fall nur ein Mittel zum Zweck, um legal nehmen zu können, und daher für Aschlag kein Akt des Altruismus. Drittens: geben, um zu geben. Man schenkt beispielsweise einer Person etwas, damit diese sich freut. Dies ist ein Akt des Altruismus, da die Freude des anderen im Mittelpunkt steht.
Die höchste Stufe sieht Rabbiner Aschlag aber in der vierten Art: nehmen, um zu geben. Man nimmt Geschenke an, aber tut dies, weil man dem Schenkenden die Freude des Schenkens ermöglichen will. Dadurch wird der Akt des Nehmens selbst zu einem Akt des Gebens, da man die Freude des anderen in den Mittelpunkt stellt. Und genau in dieser höchsten Form des Altruismus sieht Rabbiner Aschlag den Akt der Schöpfung: Anstatt uns einfach nur Freude zu schenken, gibt G’tt uns die Möglichkeit, sich die Freude bei ihm durch die »Wesensangleichung« zu erarbeiten. G’tt nimmt an, was wir geben. Nicht weil Er unsere Arbeit braucht, sondern weil unsere Freude dadurch letztendlich, für immer, größer wird.
Die große Herausforderung unserer Annäherung an G’tt besteht nun darin, dass wir als Egoisten erschaffen werden und der Egoismus unser natürlicher Zustand ist. All das Böse zwischen den Menschen, Gefühle von Angst, Wut, Hass, die bis hin zu Missbrauch und Mord führen, nimmt seinen Anfang im Egoismus, im Wunsch, für sich allein Gutes zu empfangen, während die Freude und die Grenzen anderer in den Hintergrund rücken und irrelevant werden. Doch Altruismus lässt sich üben. Lieben und Geben sind gleich einem Muskel, der trainiert werden kann und durch den unsere egoistische Veranlagung allmählich der altruistischen weichen kann.
In den Geboten der Tora sieht Rabbiner Aschlag ein Mittel, um den höchsten Altruismus zu trainieren. Denn jedes Gebot ist eine Möglichkeit, den Alltag zu unterbrechen, um eine Aktion durchzuführen (ob Schabbat, Tefillin oder das Torastudium) mit der Intention, G’tt Freude zu bereiten. Und auch in jeder zwischenmenschlichen Begegnung gebietet die Tora, dem Gegenüber mit Respekt zu begegnen, wie schon Rabbi Akiva lehrte: »›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ ist die große Zusammenfassung der Tora«, oder wie der Weise Hillel sagte: »Die gesamte Tora kann mit den Worten: ›Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu‹ zusammengefasst werden. Der Rest ist nur die Erklärung.«
Durch jedes Gebot, das wir erfüllen, wird unser Lohn größer – wir erarbeiten uns damit immer mehr Olam Haba. Durch den Altruismus im Diesseits wird uns also ein Genuss in der Zukunft zuteil. Genau hier liegt der finale Schritt in der Philosophie des Baal haSulam: Wenn G’tt die kommende Welt erschuf, um uns Freude zu geben, und dies sein Wunsch ist, so können wir ihm eine Freude machen, indem wir in Olam Haba genießen.
Das Ziel sollte aber nicht sein, sich zusammenzureißen, um das nächste Leben voll auszukosten. Es geht vielmehr darum, ewigen Genuss anzunehmen, weil G’tt uns dieses Geschenk machen will. So erreichen wir die letzte Sprosse der Leiter, den finalen Schritt zur Wesensangleichung: eine Ewigkeit in Glückseligkeit zu erleben, nicht der Glückseligkeit wegen, sondern aufgrund der Liebe zu G’tt.
Die Befreiung vom Egoismus sah Aschlag im Kibbuz verwirklicht.
Rabbiner Aschlag war bekennender Sozialist und Antiimperialist. Es wird berichtet, dass der erste israelische Premierminister David Ben Gurion nach einem Treffen mit Aschlag gesagt haben soll: »Ich wollte mit ihm über die Kabbala sprechen, aber er wollte mit mir nur über den Sozialismus reden.« Gleichzeitig verurteilte er die Sowjetunion und stellte sich gegen die gewaltsame Durchsetzung sozialistischer Ideale. Er sah im israelischen Kibbuz den idealen Gesellschaftsaufbau und beteuerte, dass die Befreiung aus den Fesseln des Egoismus auch mit einem ökonomischen Neudenken einhergehen müsse, allerdings ohne die Anwendung von Gewalt.
Im Volk Israel sah er die Avantgarde der Bewusstseinsrevolution vom Egoismus zum Altruismus. Laut Rabbiner Aschlag ist das Volk Israel aufgrund seines Leidens in Ägypten auserwählt worden, die Revolution der Nächstenliebe anzuführen. Er argumentiert, dass die Israeliten der großen Aufgabe, die Menschheit vom Egoismus wegzuführen, erst würdig wurden, nachdem sie dessen extreme Ausprägung (die Versklavung) erlebt hatten. Dabei betont er, dass der Zweck der Schöpfung auf der gesamten Menschheit liegt, unabhängig von Nationen und Ethnien.
Alle sind damit beauftragt, die Flamme des Egoismus zu löschen, aber das Volk Israel ist dazu einzigartig befähigt.
Rabbiner Aschlag starb vor 70 Jahren in Jerusalem. Seine Söhne führten sein Erbe des Kabbala-Studiums weiter. Seine Ideen sind bis heute lebendig.