Viktor Emil Frankl war Neurologe und Psychiater, überlebte die Schoa und begründete die Logotherapie und Existenzanalyse. Der jüdische Arzt wurde am 26. März 1905 in Wien geboren und starb dort am 2. September 1997. Es gibt mehr als einen Grund, 25 Jahre nach seinem Tod an Viktor Frankl zu erinnern.
Glück Was ist die Logotherapie? »Logos« stammt aus dem Griechischen und bedeutet »Sinn«. Frankl vertritt den Ansatz, dass das »menschlichste aller menschlichen Bedürfnisse« in der Suche nach einem Sinn liegt. Das Streben danach ist es, was einer Existenz Kraft, Richtung und Glück verleiht. Dessen Fehlen verursacht psychische Krankheiten wie Depressionen und Substanzabhängigkeit. Der Mensch wird dann glücklich, wenn er sich vollständig in den Dienst einer Sache oder eines anderen Menschen stellt, wie beispielsweise des Partners, den man liebt.
Frankl war ein großer Verfechter der Überzeugung, dass ein Mensch auch im unvermeidbaren Leid Sinn entdeckt und erleben kann. Seine Biografie bot dazu mehr als genug Anlässe: Als Juden wurden er, seine Frau und seine Eltern 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Sein Vater kam dort 1943 ums Leben, seine Mutter und sein Bruder wurden in Auschwitz ermordet, seine Frau starb im KZ Bergen-Belsen.
Frankl selbst wurde 1944 nach Auschwitz gebracht, kam später in zwei Außenlager des KZ Dachau, Kaufering III und VI, und wurde im April 1945 befreit. Trotz allem, was er erlebt hatte – oder vielleicht gerade deshalb –, postulierte Frankl, es sei die höchste Leistung des Menschen, unvermeidbares Leid in etwas Sinnvolles umzuwandeln. Je mehr Sinnhaftigkeit ich in meinem jetzigen Leid erfahren und erleben kann, desto kleiner ist meine Verzweiflung.
CHARAKTER Seine Theorie sah Frankl in der Beobachtung von KZ-Häftlingen bestätigt, als er wie sie die Hölle von Auschwitz miterlebte. Unter Todesangst im Konzentrationslager hätten sich oft die positiven Charaktereigenschaften dieser Menschen herauskristallisiert. Somit hätten die extremsten Situationen der Menschheitsgeschichte eine sinnstiftende Grundlage für Menschlichkeit und Spiritualität geschaffen. Diesen Gedankenansatz verfolgte Frankl in dem 1946 erschienenen Buch
… trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager.
In einem seiner Interviews zitierte er ein Beispiel: Ein Querschnittsgelähmter habe ihm geschrieben, dass er seine Behinderung fortan nutzen würde, um andere Menschen in ähnlichen Situationen zu unterstützen. Darin konnte dieser Betroffene aus dem unvermeidbaren Leid einen Sinn für sich herausholen und somit Ain seiner doch sehr belastenden Situation dennoch glücklich werden.
Autor Der Mensch wächst über sich hinaus, wenn er sich selbst oder jemand anderem aus einer Situation retten kann. Frankl führt in seinem Buch …trotzdem Ja zum Leben sagen persönliche Beispiele an. Er beschreibt, wie er dieses Buch in nur neun Tagen diktiert hatte, mit der Absicht, es anonym schreiben zu wollen. Der Verleger überzeugte ihn aber letztendlich, doch seinen Namen als Autor preiszugeben.
Frankl war davon überzeugt, dass Glück unbeabsichtigt und durch Hingabe entsteht.
Dieses Buch, in dem Frankl sich vollständig in den Hintergrund gestellt hatte, ist das seiner Bücher, welches sich mit Abstand am besten verkauft: »Freude ist die Auswirkung der Hingabe an Menschen oder an Sachen.« Das Glück komme sogar dann unbeabsichtigt, wenn jemand sich vollständig einer Person oder einer Sache hingebe. Im Umkehrschluss: Wenn jemand nach Glück strebt, wird sein Glück nicht nachhaltig sein und das Gefühl der Freude auch schnell wieder vergehen.
BEDÜRFNISSE Basierend darauf ist es laut Frankl nicht nur wichtig, sondern sogar notwendig, auch im Wohlstand Sinn für sein eigenes Leben zu suchen: nicht erst aus der Not heraus, sondern eben auch in unserer Gesellschaft, wo der Fokus auf die Befriedigung der Bedürfnisse gelegt wird. Solange das Bedürfnis nach dem Willen zum Sinn nicht befriedigt wird, wird der Mensch nicht glücklich.
Was Frankls Ansatz von den bis dato schon bestehenden psychologischen Theorien unterscheidet, ist, dass er die menschliche Dimension berücksichtigt. Seine Richtung wird oft als »Dritte Wiener Schule der Psychotherapie« bezeichnet, obwohl er selbst diese Bezeichnung nie bevorzugte.
Therapie Die vorherigen Schulen waren die berühmte Psychoanalyse von Sigmund Freud und die Individualpsychologie von Alfred Adler: Therapien, die das Ziel haben, ein inneres Gleichgewicht und eine Abmilderung der inneren Spannungszustände zu erlangen. Der Mensch reagiert laut Freud auf seine Triebe oder gemäß Adler auf sein Umfeld. Auch die spätere Verhaltenstherapie, die auf menschlichem Erlernen beruht, berücksichtigt Frankls Ansicht nach die menschliche Dimension zu wenig.
Im Gegensatz zu anderen Therapierichtungen stempelt er den Glauben nicht als dysfunktional ab.
Gewisse verhaltenstherapeutische Theorien entstammen Erkenntnissen aus Tierversuchen. Frankl zitiert ein Beispiel einer paradoxen Intervention: Ein Patient hatte Angst, beim Wassertrinken zu ersticken. Frankl gab ihm ein Glas Wasser mit der Bitte, er möge doch versuchen, dabei zu ersticken. Wie reagierte der Patient? Er musste lachen. Mit dem Lachen distanzierte sich der Betroffene von seinem Problem. Frankl meinte dazu: »Ratten lachen nicht!«
Aufgrund dieser bewussten Einbeziehung der menschlichen beziehungsweise geistigen Dimension in die Theorie ist Frankl auch offen für religiöse Einflüsse in der Therapie. Die transzendente Fähigkeit des Menschen darf in der Therapie Raum haben. Die Möglichkeit, den religiösen Glauben mit einzubeziehen, ist anders als in anderen Therapierichtungen, wo der religiöse Glaube gar als dysfunktionaler Gedanke abgestempelt wird.
SHLOMO König Shlomo sagte einst über das ganze materialistische Streben (Kohelet: 1,2): »Eitelkeit der Eitelkeiten! sprach Kohelet, Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist eitel!« Alles ist nicht nachhaltig, es hat keine Substanz und bringt kein Glück.
In einem Interview sagt Frankl, dass der Mensch zum kompletten beziehungsweise ganzen Menschen wird, wenn er über sich hinauswächst. Dies tut er, wie vorhin erwähnt, wenn er sich einer Sache oder einem Menschen gegenüber aufgibt. Die Aussage von König Shlomo entspricht also Frankls Theorie. Ist es dann ein Zufall, dass der Name »Shlomo« von »Schalem« – hebräisch für »ganz« – stammt?
Der Autor war Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Osnabrück und arbeitet jetzt als Psychotherapeut in Zürich.