Pekudej

Der Makel des Tempels

Das Judentum inspiriert die Menschen, jeden Tag aufs Neue an einer Heimstatt für G’tt zu arbeiten. Foto: Getty Images / istock

Einer der bedeutendsten Schüler des Baal Schem Tow, Reb Pinchas Koretz (1726–1791), stellte eine faszinierende Frage hinsichtlich der zwei Heimstätten, welche die Juden für G’tt errichtet hatten. Eine davon war in der Wüste, die andere in Jerusalem. Die erste war der Mischkan, das mobile Heiligtum, das die Juden auf ihrer 40 Jahre langen Reise begleitete und dann mit ihnen zusammen ins Gelobte Land kam. Die zweite war der Tempel, der von König Schlomo in Jerusalem errichtet wurde.

Wohnstätte Die beiden Heiligtümer wurden als Wohnstätten der g’ttlichen Präsenz angesehen. Sie waren das spirituelle Zentrum des jüdischen Volkes – ein Ort, an dem sich Himmel und Erde treffen würden.

Doch es gibt einen auffälligen Unterschied. Das in der Wüste erbaute Heiligtum wurde niemals zerstört. Alle Teile davon, so steht es im Talmud, wurden am Ende versteckt. Im Gegensatz dazu wurden beide Tempel niedergebrannt. Außer der Westmauer blieb nichts davon übrig.

Das erste Heiligtum war beweglich, es ließ sich transportieren und verstecken. Das Beit Hamikdasch hingegen, der Tempel, stand an einem festen Ort. Sein gesamter Innenbereich wurde zerstört. Nur die Bundeslade blieb erhalten, sie war versteckt worden.

Der Mischkan entstand auf Basis freiwilliger Beiträge, während das Beit Hamikdasch unter königlichem Druck errichtet wurde.

schutz Warum verdiente die eine Heimstätte G’ttes ewigen Schutz, während die andere dem Feind zum Opfer fiel? Die Antwort, die Reb Pinchas Koretz anbietet, ist gewagt und kraftvoll: Der Mischkan entstand auf Basis freiwilliger Beiträge des jüdischen Volkes, während das Beit Hamikdasch unter königlichem Druck errichtet wurde.

Als es um den Mischkan ging, sprach G’tt zu Mosche: »Sprich zu den Kindern Israels und lass sie für Mich Beiträge geben.« Eine große Mizwa, die absolut freiwillig ist. Die Tatsache, dass sie ohne Zwang erfüllt wurde, wiederholt die Tora fünfmal! Alle Spenden wurden nur von Menschen gegeben, »deren Herz es ihnen auftrug«. Nur ein motiviertes, inspiriertes Herz kann zum Bau des Heiligtums beitragen.

Dies galt nicht nur für diejenigen, die das Material bereitstellten, das für die Errichtung des Heiligtums benötigt wurde, sondern auch für alle am Bau beteiligten Personen. Die Bauarbeiter, Handwerker oder Künstler und Weber mussten sich freiwillig melden. Wenn sie es nicht tun wollten, taten sie es auch nicht. Es bestand also keinerlei Verpflichtung. In der Tora steht: »... jeder, dessen Herz ihn emporhob, um die Arbeit zu tun«.

Vergleichen wir dies mit dem Beit Hamikdasch: »König Schlomo erhob Steuern in ganz Israel. Er schickte die Menschen in den Libanon (um Holz für den Tempel zu fällen), Zehntausende pro Monat. Schlomo hatte 70.000 Träger und 80.000 Steinmetze in den Hügeln.«

Alles, was man unter Zwang erschafft und baut, ist nicht von langer Dauer.

Das Ergebnis war ein prächtiger Tempel. Bei den Ausgrabungen rund um die Klagemauer kann man immer noch die Steine sehen, die von diesen Männern getragen wurden. In der Tat, als König Schlomo starb, kamen die Juden mit einer Bitte zu seinem Sohn Rechovaam: »Dein Vater hat uns ein schweres Joch auferlegt. Nun mach uns die Arbeit und das schwere Joch leichter, und wir werden dir dienen.«

Inspiration Dies, so sagt Reb Pinchas Koretz, ist der grundlegende Unterschied zwischen den zwei Heimstätten G’ttes. Beide wurden zu Zentren der Heiligkeit und der Inspiration. Aber es gab einen Unterschied: Der Mischkan wurde auf freiwilliger Basis errichtet. Die Menschen waren motiviert, inspiriert und voller Energie von innen heraus.

Das Beit Hamikdasch hingegen wurde unter Zwang errichtet. Den Menschen wurden Abgaben auferlegt, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch hinsichtlich der Arbeitskraft. Alles, was man unter Zwang erschafft und baut, ist nicht von langer Dauer. Es bricht irgendwann zusammen. Der Kon­s­truktion fehlt die Ausdauer. Freiheit ist in das Genom der menschlichen Seele eingeschrieben.

Wenn man einen Menschen zwingt, etwas zu tun, dann bringt man ihn dazu, es nur so aussehen zu lassen, als würde er es tun. Nur wenn ein Mensch etwas von Herzen und mit Leidenschaft tut, besteht die Möglichkeit, dass es für die Ewigkeit ist.

Erfolg Dies gilt für alle Bereiche des Lebens. Man kann die Schlacht gewinnen und den Krieg verlieren. Man kann Menschen dazu zwingen, etwas so zu tun, wie man es will, und unter Umständen hat man damit Erfolg. Aber es ist ein kurzer Erfolg. Er wird nicht von Dauer sein. Alles, was Menschen gegen ihren Willen auferlegt wird, ist nicht für die Ewigkeit.

So ist es auch mit unseren Kindern. Manchmal zwingen wir sie, etwas zu tun, aber dies sollte man nicht zur Gewohnheit machen. Das ist nicht Erziehung. Nur, wenn ich das Herz meines Kindes oder meiner Schüler berühre, wird es für die Ewigkeit sein.

Es ist verführerisch, eine Abkürzung zu nehmen, jemanden zu zwingen. Es regelt die Dinge ganz schnell und ist scheinbar auch effizient. Aber langfristig gesehen ist es ein Desaster.

Eine erzwungene Beziehung ist keine richtige, denn in so einer ist das Gegenüber nicht wirklich anwesend.

Dies lässt sich bei jedem politischen System beobachten, das mit Zwang regiert. Es mag eine lange Zeit, sogar eine sehr lange Zeit andauern, aber schließlich bricht es zusammen. Denn es verwehrt die aus jüdischer Sicht wohl grundlegendste Wahrheit: Ein freier G’tt verlangt nach einer Beziehung zu freien Menschen. Er möchte unser Herz, unsere Seele, unsere Leidenschaft. Eine erzwungene Beziehung ist keine richtige, denn in so einer ist das Gegenüber nicht wirklich anwesend. Das externe Ich mag anwesend sein, aber das vollständige Ich ist es nicht.

enthusiasmus Der verrückte römische Kaiser Caligula, der sein Lieblingspferd zum Konsul machen wollte, sagte einmal über sein Volk: »Lasst sie mich hassen, solange sie mich fürchten.« Wie so viele vor ihm und nach ihm lag er falsch. Er vergoss viel Blut während seiner Terrorherrschaft, aber das Römische Reich existiert nicht mehr.

Das jüdische Volk hingegen ist da, und das Judentum ist da, weil es die Menschen dazu inspirierte, jeden Tag aufs Neue an einer Heimstatt für G’tt zu arbeiten – mit Leidenschaft, Enthusiasmus und aus innerer Überzeugung. Zwang tötet den Geist und zerstört das Leben. Zwang zieht Gefolgsleute heran, keine Führungspersönlichkeiten. Doch G’tt wünscht sich Führungspersönlichkeiten, keine Gefolgsleute.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

INHALT

Dieser Wochenabschnitt ist der letzte des Buches Schemot. Er berichtet von der Berechnung der Stoffe, die für das Stiftszelt verarbeitet werden, und wiederholt die Anweisungen, wie die Priesterkleidung anzufertigen ist. Die Arbeiten am Mischkan werden vollendet. Danach werden die Priester und Teile des Stiftszelts gesalbt. Als dies alles vollendet ist, erscheint über dem Heiligtum eine »Wolke des Ewigen«. Sie zeigt dem V0lk die Gegenwart des Ewigen und wird ein Zeichen sein, wann es aufbrechen und weiterziehen soll.
2. Buch Mose 38,21 – 40,38

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