Unsere Weisen haben den Pentateuch in 54 Abschnitte eingeteilt, damit es auch in einem Schaltjahr, das bekanntlich aus 13 Monaten besteht, genügend Abschnitte für die Tora-Vorlesung am Schabbat gibt. Und sie haben ebenfalls festgelegt, wann der Zyklus der Lesungen beginnt und wann er endet: »Bereschit« (1. Buch Mose 1,1–6,8) wird am Schabbat nach Schemini Azeret/Simchat Tora in der Synagoge vorgetragen, und »Wesot Habracha« (5. Buch Mose 33,1– 34,12) wird stets am Fest Schemini Azeret/Simchat Tora vorgelesen.
Bemerkenswert daran ist, dass »Wesot Habracha« in den Ländern der Diaspora immer an einem Wochentag gelesen wird, niemals an einem Schabbat. Im Land Israel kann es zwar vorkommen, dass »Wesot Habracha« an einem Schabbat vorgetragen wird, aber in den meisten Jahren ist dies, wie ein Blick in den Hundertjährigen Kalender zeigt, nicht der Fall. Wir können also festhalten, dass »Wesot Habracha« unter den Wochenabschnitten eine Ausnahme bildet: Er ist der einzige Abschnitt, der nicht an einem Schabbat gelesen wird. Was mag wohl der Grund für diese Ausnahme sein?
Und noch eine weitere Frage drängt sich dem Betrachter auf: Warum endet der Zyklus der Tora-Lesungen nicht vor Rosch Haschana, sondern erst ungefähr drei Wochen später? Die Weisen hätten Anfang und Ende des Zyklus problemlos anders arrangieren können.
Joel Bin-Nun Eine auf den ersten Blick verblüffende These, die Rabbiner Joel Bin-Nun in seinem hebräischen Buch Zakhor Ve-Shamor (Alon Shevut 5775) aufgestellt hat, kann uns helfen, beide aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Seine These lautet: »Das neue jüdische Jahr beginnt, bevor das vorhergehende Jahr zu Ende gegangen ist!« Wie ist so etwas überhaupt denkbar? Wie beweist Rabbiner Bin-Nun diese kühne Behauptung?
Unbestreitbar ist, dass sich an dem Tag, den wir gewohnt sind, Rosch Haschana zu nennen (am 1. Tischri), die Jahreszahl ändert. Diese Tatsache weist darauf hin, dass an diesem Tag ein neues Jahr begonnen hat. Was spricht gegen die naheliegende Auffassung, das alte Jahr sei am Vortag, also am 29. Elul, zu Ende gegangen? Rabbiner Bin-Nun führt mehrere Toraverse an, in denen ausdrücklich gesagt wird, dass das Jahr mit dem Sukkotfest endet.
Als Beweis dienen folgende Verse. Erstens: »Und das Fest der Ernte, der Erstlinge deiner Arbeit, dessen, was du ausgesäet auf dem Felde; und das Fest der Einsammlung beim Ausgang des Jahres – wenn du einsammelst deine Arbeit vom Feld« (2. Buch Mose 23,16). Zweitens: »Und als ein Wochenfest hast du dir das Fest der Erstlinge der Weizenernte zu gestalten, und ein Fest der Ernte mit der Jahreswende« (2. Buch Mose, 34,22). Drittens: »Und Mosche gebot ihnen also: Am Schluss von sieben Jahren um die Zeit des Erlassjahres, am Feste der Hütten« (5. Buch Mose 31,10).
Wir sehen also, dass Sukkot sich zwar eindeutig im neuen Kalenderjahr befindet, jedoch mehrfach im Pentateuch als Schluss des Jahres bezeichnet wird.
Rosch Haschana In der Tora wird der am 1. Tischri begangene Feiertag, an dem Schofar geblasen werden soll, niemals als Rosch Haschana bezeichnet. Beim Propheten Jecheskel (40,1) kommt die Bezeichnung Rosch Haschana vor; dort ist allerdings eindeutig von Jom Hakippurim die Rede!
Rabbiner Bin-Nun erklärt, dass »Rosch Haschana« in der Bibel nicht einen einzigen Tag meint, sondern vielmehr einen bestimmten Zeitraum: den Anfang des Jahres. Daher kann der Prophet Jecheskel Jom Hakippurim, der am 10. Tischri begangen wird, durchaus mit Rosch Haschana in Verbindung bringen.
Wenn wir den 1. Tischri als Beginn des jüdischen Jahres nehmen, dann endet das Sonnenjahr 365 Tage nach diesem Anfang. Jom Hakippurim erweist sich als der letzte volle Tag des alten Jahres!
Diese Tatsache ist, wie Rabbiner Bin-Nun betont, nicht seine eigene Entdeckung; er verweist auf den französischen Rabbiner Menachem Ben Salomon Meir (1249–1316), der in einer seiner Schriften Jom Hakippurim als letzten Tag des Sonnenjahres gesehen hat.
Jahresende Kehren wir nun zu den oben gestellten Fragen zurück. Warum endet der Zyklus der Tora-Lesungen nicht im Monat Elul, vor Rosch Haschana? Die überzeugende Antwort lautet: weil am 1. Tischri lediglich der Monat der Jahreswende beginnt. Erst das Sukkotfest beschließt den Kreis der drei Wallfahrtsfeste und das landwirtschaftliche Jahr. Der letzte Wochenabschnitt gehört an das Ende des jüdischen Jahres!
Die Tatsache, dass das Jahr erst nach Sukkot endet, begründet die Ausnahmeregelung für »Wesot Habracha«: Dieser Abschnitt soll nämlich genau an dem Tag gelesen werden, der das Ende des jüdischen Jahres markiert. Die Regel, dass der Wochenabschnitt jeweils am Schabbat zu lesen ist, tritt dann schon wenige Tage später in Kraft: am Schabbat »Bereschit«.