Talmudisches

Der lange Weg zur Chassidut

Männer beim Lernen Foto: Flash 90

Eine Mischna lehrt uns, dass Gelehrsamkeit die Voraussetzung von Frömmigkeit (Chassidut) ist: »Hillel pflegte zu sagen: Ein Unwissender kann nicht sündenscheu sein, und ein Ununterrichteter kann nicht fromm sein« (Pirkej Awot 2,6).

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) erklärt, warum ein Ungebildeter kein Frommer (Chassid) sein wird: »Ihm wird Wertloses bedeutsam und das Bedeutsame wertlos erscheinen, und er wird seinen frommen Sinn meist nicht in dem Rechten betätigen.« Chassidut muss durch lange Lernprozesse erworben werden.

achtsamkeit Wie der lange Weg zur Chassidut aussieht, hat Rabbi Pinchas Ben Jair in der letzten Mischna des Traktats Sota beschrieben: von der Achtsamkeit zur Rüstigkeit, über Lauterkeit, Zurückhaltung, Reinheit zur Chassidut. In seinem klassischen Werk Messilat Jescharim (Der Weg der Aufrichtigen) hat Rabbiner Mosche Chajim Luzzatto (1707–1746) diese Stufenlehre anhand von Begriffserklärungen und Beispielen vorzüglich erläutert.

Eine Anleitung in Stichworten finden wir im Talmud: »Rabbi Jehuda sagte: Wer ein Chassid sein will, studiere und halte Gesetze des Traktats Nesikin (Schädigungen). Raba sagte: Vorschriften des Traktats Awot (Sprüche der Väter). Manche sagen: Vorschriften des Traktats Berachot (Segenssprüche)« (Baba Kamma 30a).

Es drängt sich die Frage auf, warum dem angehenden Chassid gerade diese drei Traktate empfohlen werden. Der Raschba, Rabbiner Schlomo Ben Abra­ham Ibn Aderet (1235–1310), erklärt, dass in den angegebenen drei Traktaten gesagt wird, was die früheren Frommen getan haben. Ihr Handeln ist als vorbildlich anzusehen und daher nachzuahmen.

gepflogenheiten Von Gepflogenheiten der Frommen in Bezug auf Schädigungen ist unmittelbar vor dem Ausspruch von Rabbi Jehuda die Rede: »Die Rabbanan lehrten: Die früheren Chassidim pflegten ihre Dornen und ihr Glas auf ihren Feldern zu verstecken; sie vergruben sie drei Hand breit tief, damit sie dem Pflug nicht hinderlich seien.«

In einer mustergültigen Art und Weise haben die Frommen also dafür gesorgt, dass niemand durch ihren Abfall zu Schaden kommt. Der Rambam, Maimonides (1138–1204), erwähnt diese Vorsichtsmaßnahmen der Chassidim in seinem Kodex (Hilchot Niske Mammon 13,22).

Was den Traktat Awot angeht, verweist der Raschba auf folgende Aussage über die Frommen: »Wenn jemand spricht: Das Meinige ist dein, das Deinige ist dein – der ist ein Chassid« (Pirkej Awot 5,13).

Ein Chassid erweist also anderen Wohltaten ohne Anspruch auf eine Gegenleistung. Diesen talmudischen Lehrsatz darf man nicht missverstehen: Ein Chassid ist bereit, sich von einem Teil seines Vermögens zu trennen; aber natürlich wird kein vernünftiger Mensch alles weggeben.

GEMÜTSARTEN In Awot ist von weiteren Merkmalen eines Frommen die Rede: In der Mischna über die vier Gemütsarten, die es gibt, lesen wir: »Schwer zu zürnen und leicht zu besänftigen – der ist ein Chassid« (5,14). In der Mischna über die vier Sinnesarten unter den Spendern heißt es: »Wer selbst geben will und auch will, dass andere spenden – der ist ein Chassid« (5,16).

In der Mischna über die ins Lehrhaus Gehenden steht: »Wer geht und tätig ist (in der Ausübung guter Taten), ist ein Chassid« (5,17). Dieser Mann hätte zu Hause lernen können – doch er geht ins Lehrhaus. Zusammenfassend kann man sagen: Ein Chassid macht stets mehr, als das Gesetz der Tora von jedem Juden verlangt (hebräisch: lifnim mischurat hadin).

Die oben zitierte Gemara (Baba Kamma 30a) erwähnt auch den Traktat Berachot. Der Raschba verweist auf folgende Stelle: »Die früheren Frommen pflegten eine Stunde zu verweilen und dann zu beten, um zuvor ihr Herz auf ihren Vater im Himmel zu richten« (Berachot 30b).

vorbereitung Anzumerken ist, dass nach dem Schulchan Aruch jeder Beter eine Zeit der Vorbereitung braucht (Orach Chajim 90,20 und 93,1). Ein Chassid nimmt sich sogar eine ganze Stunde.

Bemerkenswert ist, dass in Nesikin, Awot und Berachot verschiedene Dimensionen der Chassidut zum Ausdruck kommen. Nesikin verweist auf zwischenmenschliche Beziehungen, Awot handelt von der Selbstveredelung, und Berachot ist auf das Verhältnis zwischen dem Menschen und Gʼtt bezogen. Wer ein Chassid werden möchte, sollte also bereit sein, in jeder Beziehung lifnim mischurat hadin zu handeln.

Chaje Sara

Handeln für Generationen

Was ein Grundstückskauf und eine Eheanbahnung mit der Bindung zum Heiligen Land zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  22.11.2024

Talmudisches

Elefant

Was unsere Weisen über die Dickhäuter lehrten

von Rabbiner Netanel Olhoeft  22.11.2024

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024