Ein kleiner Junge klettert auf Anweisung seines Vaters ein Gebäude hinauf, um Küken aus einem Nest zu holen. Oben angekommen, vertreibt er zunächst die Mutter der Küken, dann fällt er hinunter und stirbt.
Diese tragische Geschichte vom Tod des namenlosen Jungen gehört zu einem der meist studierten Abschnitte des Talmudtraktats Kidduschin. Für unsere Weisen, die Rabbinen, gibt es auch einen sehr triftigen Grund, sich mit dieser besonderen Geschichte zu befassen: Der Tod des Jungen zerstört nämlich das einfache Verständnis der biblischen Verse.
Versprechen Die Tora verspricht demjenigen, der beim Fangen der Küken zunächst ihre Mutter fliegen lässt, ein langes Leben: »Wenn du unterwegs ein Vogelnest findest auf einem Baum oder auf der Erde mit Jungen oder mit Eiern, und die Mutter sitzt auf den Jungen oder auf den Eiern, so sollst du nicht die Mutter mit den Jungen nehmen, sondern du darfst die Jungen nehmen, aber die Mutter sollst du fliegen lassen, auf dass dir’s wohl ergehe und du lange lebst« (5. Buch Mose 22, 6–7).
Auch für das Ehren der Eltern wird ein langes Leben versprochen: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, (...) auf dass du lange lebst und dir’s wohl ergehe« (5,16).
Der unschuldige Junge hat sowohl seinen Vater geehrt, als er dessen Anweisung folgte, als auch die Mutter der Küken fliegen lassen – und er hatte ganz offensichtlich kein langes Leben.
Der Talmud erwägt kurzzeitig die Möglichkeit, der Vorfall habe sich nicht wirklich ereignet. Diese Möglichkeit wird aber abgelehnt, da einer der talmudischen Weisen Zeuge des Vorfalls war.
Lohn Die Weisen sind gezwungen, die Verse anders zu interpretieren. Wenn die Tora das »lange Leben« erwähnt, meint sie eigentlich das ewig lange Leben in der kommenden Welt. Deshalb steht diese Geschichte nicht im Widerspruch zur Tora. Der kleine Junge wird seinen Lohn in der kommenden Welt genießen, der frühzeitige Tod hat mit den oben genannten Versen nichts zu tun.
Manche meinen, es handele sich hier um die Ausrede einiger Theologen, die sich dem Anerkennen der Realität widersetzen. So hat zum Beispiel Elischa ben Awuja, einer der talmudischen Weisen, diese Interpretation abgelehnt. Nach einer Meinung war es dieser Vorfall, der ihn dazu brachte, das religiöse Leben abzulehnen. Die Weisen des Talmuds haben ihm daraufhin den Rabbinertitel aberkannt und nannten ihn Acher – auf Deutsch: der andere.
Ich denke, dass diese Interpretation sehr viel Aufschluss gibt über den Blick der Weisen auf die Natur der Gebote und die damit verbundenen Belohnungen sowie über den Blick der Weisen auf die kommende Welt als Ganzes.
Mizwa Das hebräische Wort für »Gebot« ist »Mizwa« und kommt von dem Wort »Zawta« – deutsch: »verbinden«. Die Ausführung der Gebote schafft Verbundenheit mit dem Schöpfer. Diese Verbundenheit ist die maximale Ekstase der menschlichen Seele.
Die Mischna lehrt in den Sprüchen der Väter: »Der Lohn einer Mizwa ist eine Mizwa« (4,2). Der Lohn eines Gebotes ist das Gebot. Das heißt, der Lohn des Gebotes besteht darin, dass es eine Verbindung mit dem Ewigen herstellt. Diese Verbindung kann nicht in einer zeitlich begrenzten Welt ausgekostet werden, sondern der Ort, an dem der Lohn »ausgezahlt« wird, ist daher selbstverständlich die kommende Welt.
Ein anderer Vers in den Sprüchen der Väter sagt: »Seid nicht wie Diener, die ihrem Herrn dienen, um Lohn zu erhalten, sondern seid wie Diener, die ihrem Herrn dienen, nicht um Lohn zu erhalten« (1,3).Im Midrasch Awot des Rabbi Nathan findet dieser Vers eine Fortsetzung: »... auf dass dein Lohn in Zukunft vermehrt wird«.
Ausgehend von dem oben Gesagten, kann auch dieser Widerspruch aufgelöst werden. Wer die Gebote erfüllt, um sich mit G’tt zu verbinden und nicht, um im Diesseits belohnt zu werden, ist ein »Diener, der nicht dient, um den Lohn zu erhalten«. Tatsächlich ist der Lohn einzig und allein die Verbundenheit mit G’tt, sodass hierdurch »dein Lohn in Zukunft vermehrt wird«.