Rav Kook

Der Idealist

Als Rabbiner Kook in Jaffa ankam, wollte er eine Gesellschaft im Einklang mit anderen Völkern, mit Pflanzen und Tieren

von Vyacheslav Dobrovych  16.08.2024 08:50 Uhr

Rabbiner Kook galt als revolutionär – war aber auch hoch umstritten. Foto: picture alliance / CPA Media Co. Ltd

Als Rabbiner Kook in Jaffa ankam, wollte er eine Gesellschaft im Einklang mit anderen Völkern, mit Pflanzen und Tieren

von Vyacheslav Dobrovych  16.08.2024 08:50 Uhr

Er gilt als der ideologische Vordenker der religiös-zionistischen Parteien in Israel, obwohl er die Staatsgründung im Jahr 1948 nicht miterlebte. Seine Schriften werden sowohl von modern-orthodoxen Friedensaktivisten als auch vom rechtesten Flügel der Siedlerbewegung studiert, und antizionistische Ultraorthodoxe sehen in ihm einen Abtrünnigen: Die Rede ist vom ersten aschkenasischen Oberrabbiner des Landes Israel, Rabbi Avraham Itzhak haKohen Kook. Doch wer war Rabbiner Kook, und was hat er wirklich gelehrt?

Rabbiner Kook wurde 1865 in Griva im heutigen Lettland und damaligen russischen Zarenreich geboren. Sein Vater, auch er war Rabbiner, kam aus der litvischen, also der eher rationalistisch geprägten Tradition und war ein Schüler des großen Rabbi Chaim von Woloschin. Rav Kooks Mutter stammte aus einer chassidischen Familie, also einer Tradition, die in der Mystik zu Hause ist. Beide Einflüsse wurden im Haus der Familie Kook vereint und sollten künftig eine Rolle bei der Entwicklung von Rav Kooks Philosophie spielen.

Schon in jungen Jahren zeigte sich Rabbiner Kook als talentierter Schüler und Lehrer, im Alter von nur 23 Jahren bekam er seine erste Stelle als Gemeinderabbiner in Lettland. Im Jahr 1903 veröffentlichte er den Artikel »Eine Vision des Vegetarismus und des Friedens«, die bis heute von jüdischen Tier- und Umweltfreunden studiert wird und Einfluss nimmt.

Eine ideale Gesellschaft

In diesem Artikel argumentiert Rav Kook, dass der Fleischkonsum von der Tora zwar erlaubt wurde, allerdings nicht das Ideal darstellt. Eine ideale Gesellschaft, die im wahren Frieden lebt, ist eine Gesellschaft, die nicht nur von voller Harmonie und Nächstenliebe unter den Menschen geprägt ist, sondern auch von Harmonie und Liebe zwischen Mensch und Tier. Die künftige, messianische Gesellschaft, so Rav Kook, müsse vegetarisch sein, denn nur eine Gesellschaft, in der die Menschen Mitleid mit den Tieren empfinden, kann als vollkommen gelten.

In seiner Vorstellung isst die messianische Gesellschaft vegetarisch.

Ein Jahr später, im Jahr 1904, wird Rabbiner Kook eine Stelle am Rabbinat von Jaffa im heutigen Israel und damaligen Osmanischen Reich angeboten. Seine Ankunft am Hafen von Jaffa sollte schon bald einen großen Einfluss auf die Entwicklung des damals neu entstehenden zionistischen Projekts und auf sein Verhältnis zur Orthodoxie haben.

Erst sieben Jahre zuvor, im Jahr 1897, hatte der erste Zionistenkongress in Basel stattgefunden. Damit verbunden gab es die erste große Welle von zionistischen und meist säkularen Einwanderern in das Gebiet des heutigen Israel, in dem neben der arabischen Bevölkerung bereits seit Generationen eine sehr religiöse und nicht-zionistische jüdische Gemeinde bestand – Konflikte schienen vorprogrammiert.

Direkt nach der Ankunft Rabbiner Kooks stirbt Theodor Herzl am 3. Juli 1904 in Wien. Rav Kook entscheidet sich aus diesem Anlass, in Jaffa eine Trauerrede auf ihn zu halten. Diese Rede wird von vielen als die Geburtsstunde des religiös-zionistischen Projekts gesehen. Rav Kook beschreibt in seiner Trauerrede, dass die jüdische Tradition von zwei messianischen Figuren ausgeht: Maschiach ben Josef und Maschiach ben David. Während der Maschiach ben David die spirituelle Erlösung der Menschheit einläutet, ist der Maschiach ben Josef ein Vorreiter für den Maschiach ben David.

Das Körperliche und das Seelische

Dessen Aufgabe ist die physische Arbeit, die Vorbereitung des Körperlichen, bevor das Seelische sich entfalten kann. In seiner Rede gibt Kook zu verstehen, dass die Rolle des vorbereitenden Messias in Herzl und der zionistischen Bewegung gesehen werden kann.

Eine revolutionäre Idee, welche die säkulare und in Teilen sogar antireligiöse zionistische Bewegung als Teil eines g’ttlichen Plans versteht. Der Zionismus, so kann man Rav Kook verstehen, muss das materielle Israel physisch vorbereiten, damit die Seele des Judentums einen Körper hat, in dem sie wohnen kann. Diese Idee schafft eine Brücke zwischen den verfeindeten säkularen und den religiösen Teilen der Gesellschaft, stieß aber auch auf viel Kritik. In den Jahren darauf distanzierten sich zahlreiche rabbinische Größen von Rabbiner Kook, da sie in der »Heiligung« des Zionismus und der Annäherung an die in ihm inhärenten modernen und säkularen Elemente eine Gefahr für den traditionellen jüdischen Lebensstil sahen.

Dabei hatte Rav Kook niemals die Absicht, eine weniger religiöse Linie in der Orthodoxie zu etablieren. In späteren Stellungnahmen schrieb er, dass er sich selbstverständlich das Einhalten der Halacha von allen Teilen der Bevölkerung wünscht, nichtsdestotrotz auch in der nicht vorhandenen Religiosität der ersten Zionisten einen Teil des g’ttlichen Plans sieht.

Für Rav Kook waren die Ideen von Darwin und Herzl mit der Religion vereinbar.

Auch in anderen Fragen war Rav Kook revolutionär und wurde damit zu einem Denker, der Kritik und Bewunderung zugleich auslöste. Er sah die Evolutions­theorie als vollkommen kompatibel mit dem Judentum an, vor allem mit Ideen aus der Kabbala. Damit wurde er im frühen 20. Jahrhundert zu einem der ersten orthodoxen Denker, der Darwins Theorie zu integrieren versuchte. Er setzte sich für Religionsschulen ein, in denen neben religiösem Wissen auch säkulare Wissenschaften unterrichtet werden. Unter seiner Aufsicht wurde 1929 die bis heute einflussreiche Jugendorganisation »Bnei Akiva« gegründet. Im Ausbau von jüdischer Landwirtschaft sah er einen g’ttlichen Prozess zur Wiederherstellung des jüdischen Lebens, wie es von den biblischen Propheten vorhergesagt wurde.

Fokus auf das Irdische

Trotz des Fokus auf das Irdische sind Rav Kooks Schriften durch und durch mystisch, spirituell und voller Emotion. So schreibt er: »Die Liebe zu allem, was lebt, ist die Basis von allem. Aus ihr erwächst die Liebe zur Menschheit, aus ihr erwächst die Liebe zu Israel, denn künftig wird Israel die gesamte Schöpfung reparieren. Und jede Liebe ist eine tätige Liebe. Zu lieben bedeutet, dem Geliebten Gutes zu geben, eine Verbesserung des Geliebten herbeizuführen.«

Hier lässt sich erkennen, dass die Bemühung Rav Kooks um die Gründung des Staates Israel keine rein nationalistische Idee war, sondern eine universalistische. Fest überzeugt von den Worten der Propheten, sah er in der Rückkehr des jüdischen Volkes in seine ursprüngliche Heimat nicht nur die Möglichkeit zur Selbstbestimmung oder einen Schutz vor dem Antisemitismus – für ihn war es die Möglichkeit zur Erschaffung einer idealen Gesellschaft: eine Gesellschaft der Nächstenliebe und der Tierliebe, der Wissenschaft, der Landwirtschaft und vor allem der Spiritualität. Von dieser Gesellschaft sollte der gesamte Planet profitieren und lernen. Ein Licht unter den Völkern, ein Lehrer und Vorbild unter den Nationen – nicht mit dem Ziel, andere Nationen zu unterdrücken, sondern mit dem Ziel, andere Nationen zu befreien, ihr Leben zu bereichern.

Gleichzeitig sah Rav Kook im Boden des Landes Israel etwas Spirituelles und Wundersames, das Herzstück des Planeten, das jenseits von g’ttlicher Mission eine Bedeutung hat. In der Philosophie Kooks ist die Natur Israels, jeder Stein und jedes Staubkorn ein Ausdruck von Heiligkeit.

Rav Kook setzte sich für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Arabern ein. Nach dem Pogrom in Hebron im Jahr 1929, bei dem zahlreiche Juden ermordet wurden, schrieb Kook einen Zeitungsartikel, in dem er sich gegen die Pauschalisierung der arabischen Bevölkerung ausspricht. Er sah in der jüdischen Nächstenliebe gegenüber Nichtjuden eine der Charakteristiken der messianischen Erlösung und befand den strikten Partikularismus für ein Anzeichen, dass die Seele noch nicht ausgereift ist.

Auch wenn er heute von Radikalen gefeiert wird – Kook wollte Frieden mit den Arabern.

Rav Kook sah den Intellekt und das Rationale als »kleinen Schüler« der Seele, die den Intellekt lehrt, die Realität mit einem sich erneuernden Bewusstsein zu erfahren. Revolutionär ist auch Rav Kooks Idee von Teschuwa, also der Rückkehr zu G’tt. Laut Rav Kook ist G’tt erhaben und losgelöst von allen Bedingungen der Materie, daher ist jeder Schritt in Richtung dieser Losgelöstheit (auch medizinischer, wissenschaftlicher, sozialer Fortschritt) in Wahrheit ein Schritt in Richtung G’tt.

Lichter und Kabbala

Viele der Schriften Rav Kooks tragen den Titel »Orot« (Lichter): Orot Israel (Lichter Israels), Orot haTschuwa (Lichter der Rückkehr), Orot haKodesch (Lichter des Heiligen). Das Konzept der Lichter stammt aus der Kabbala. In der jüdischen Mystik geht man davon aus, dass G’tt Lichter auf die Erde herabsendet – spirituelles Licht, das sich in Segen manifestieren kann, falls das nötige Kli (Gefäß) vorhanden ist, um die Lichter aufzunehmen. Die Fähigkeit des Gefäßes, das Licht aufzunehmen, ist also das, was das Potenzial (Licher) aktualisiert und real macht.

Das Wort Orot hat den Zahlenwert 613 – gleich der Anzahl der Gebote in der Tora. Das Wort Kli hat den Zahlenwert 60 – gleich dem Wort Halacha (jüdisches Religionsgesetz). Die Halacha ist demnach das Gefäß, in dem die Gebote und Ideen der Tora aktualisiert werden. Die Halacha gibt dem Vers der Tora eine konkrete Form. Die Weisen lehren auch, dass die Gebete ein Gefäß erschaffen, durch das der g’ttliche Segen (Lichter) empfangen werden kann.

Die Titel, die das Wort »Orot« enthalten, passen daher sehr gut zu den Schriften von Rav Kook, der zeitlebens von seinen Kritikern bestenfalls als Träumer abgetan wurde. Rav Kook war fasziniert von den ganz großen Idealen, der perfekten Gesellschaft, den Lichtern – die das Gefäß (den künftigen Staat Israel) füllen sollten.

Rav Kook wurde im Jahr 1921 der erste aschkenasische Oberrabbiner des Landes Israel, damals britisches Mandatsgebiet Palästina, ein Amt, das bis heute existiert. Im Jahr 1935 starb Rabbi Avraham Itzhak haKohen Kook in Jerusalem, 13 Jahre vor der Staatsgründung, auf die er mit ganzem Herzen hingearbeitet hatte. Sein Vermächtnis wird das Studium der jüdischen Lehre wohl bis zur Ankunft des Messias beschäftigen.

Ki Tawo

Von Lego lernen

Die Geschichte des Spielwarenherstellers lehrt uns etwas

von Rabbiner Bryan Weisz  20.09.2024

Talmudisches

Metatron

Was unsere Weisen über den »Minister der Welt«, den Engel des Universums, lehrten

von Vyacheslav Dobrovych  20.09.2024

Versöhnung

Mehr als nur ein paar Worte

Im Elul sollen wir uns bei unseren Mitmenschen entschuldigen. Aber wie geht das richtig?

von Rabbiner David Kraus  20.09.2024

Rabbiner Yehoyada Amir

»Wir werden geduldig sein«

Der Leiter des neuen Regina Jonas Seminars über die liberale Rabbinerausbildung

von Ayala Goldmann  19.09.2024

Hochschule

»Herausragender Moment für das jüdische Leben in Deutschland«

Unter dem Dach der neuen Nathan Peter Levinson-Stiftung werden künftig liberale und konservative Rabbinerinnen und Rabbiner ausgebildet. Bei der Ausbildung jüdischer Geistlicher wird die Uni Potsdam eng mit der Stiftung zusammenarbeiten

von Imanuel Marcus  17.09.2024

Talmudisches

Lügen aus Gefälligkeit

Die Weisen der Antike diskutierten darüber, wann man von der Wahrheit abweichen darf

von Rabbiner Netanel Olhoeft  13.09.2024

Zedaka

Geben, was uns gegeben wurde

Warum man sich im Monat Elul Gedanken über die Motive der eigenen Wohltätigkeit machen sollte

von Rabbiner Raphael Evers  13.09.2024

Ki Teze

»Hüte dich vor allem Bösen«

Was die Tora über ethisch korrektes Verhalten bei Militäreinsätzen lehrt

von Yonatan Amrani  12.09.2024

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert