Purim

Der große Plot-Twist

Die Purimgeschichte spielt 70 Jahre nach der Zerstörung des Ersten Tempels im persischen Exil. Das jüdische Volk befindet sich an einem nationalen Tiefpunkt, die Stimmung ist schlecht, auch die Verbindung zu dem Gʼtt, der sie einst aus Ägypten befreit hat, scheint abgebrochen. Achaschwerosch, König von Persien, war keineswegs ein Verbündeter.

Haman, sein Stabschef, sieht die Juden als Erzfeinde und droht ihnen mit der Vernichtung. Der König und viele Bürger unterstützen ihn in seinem Vorhaben. Der Talmud interpretiert diese missliche Lage nicht nur als weltliche Bedrohung, sondern eine mit himmlischem Beistand. Das jüdische Volk verdiente harte Konsequenzen für sein alles andere als perfektes Verhalten.

Doch am Ende bleibt Haman nicht nur erfolglos, sondern der Täter wird zum Opfer seiner eigenen Machenschaften. Das Komplott nimmt eine völlig andere Wendung, und der Tag, der für die Auslöschung des jüdischen Volkes vorgesehen war, wird zu einem Tag des Sieges über diejenigen, die es vernichten wollten. Am Galgen, den Haman für die Hinrichtung Mordechais errichtete, baumelt er selbst.

Umkehrungen, die man in der Megillat Esther entdecken kann

Dies sind nur Beispiele für eine ganze Reihe von Umkehrungen, die man in der Megillat Esther entdecken kann. »Wenahafoch Hu, Ascher Jischlitu HaJehudim Hema Besoneihem«, heißt es dort: Und es wendete sich, dass die Juden über ihre Feinde siegten. Die Megillat Esther selbst betont, dass die Rettung der Juden kein simples »Happy End« darstellt, sondern vielmehr die Ereignisse sich in einer Weise umkehrten, dass sie die Logik der Vernichtung auf den Kopf stellten. Doch diese Kehrtwende braucht ihre Zeit. Tatsächlich dauert es ganze neun Jahre nach der Eröffnungsszene der Megillat Esther, bis der ersehnte »Plot-Twist« erfolgt.

Die Megillat Esther beginnt mit dem hebräischen Wort »Wajehi«, wörtlich übersetzt: »Und es war«. Der Talmud lehrt jedoch, dass jenes Wort ein Vorzeichen für bevorstehendes Unheil sein kann. Rav Elijahu von Vilnius, ein Weiser aus dem 18. Jahrhundert, der als Gaon von Wilna bekannt ist, bietet eine Erklärung an: Die Wurzel des hebräischen Wortes »Wajehi« ist »Jehi«, was »es wird sein« bedeutet, im Futur. Durch Hinzufügen der Vorsilbe »Wa« ändert sich jedoch die Zukunftsform – »es wird sein« – zur Vergangenheitsform »und es war«.

Das liegt daran, dass der hebräische Buchstabe »Waw« (je nach Vokalisierung) als Präfix fungieren kann, welches die Zeitform eines Wortes ändert. Ein »Waw« kann also die Vergangenheit in Zukunft und die Zukunft in Vergangenheit umwandeln. Das ist alles, was der Wilna Gaon mitteilt – eine eher kryptische Erklärung, wie es bei ihm üblich ist. Doch was ist so bedrohlich oder tragisch daran, dass die Zukunft zur Vergangenheit wird?

Schon grammatikalisch kehrt sich in der Megilla Zukunft in Vergangenheit.

Was ist die Zukunft? Es ist das Leben, das noch zu leben ist, die Zeit, die wir noch nicht genutzt haben; sie ist nicht begrenzt, sie ist nicht festgelegt, sie erlaubt uns zu träumen. Wir können sie gestalten, und wir hoffen, sie zu genießen. Mit einem Wort: Die Zukunft ist eine Chance. Stellen Sie das der Vergangenheit gegenüber. Die Vergangenheit ist fest, unabänderlich und liegt hinter uns. Die Vergangenheit an sich ist nicht tragisch – es gibt eben schlechte Erfahrungen, aber auch gute Erinnerungen, die man in Ehren halten kann.

Die Umkehrung der Zukunft in die Vergangenheit

Aber die Umkehrung der Zukunft in die Vergangenheit ist etwas ganz anderes. Bei dieser Umkehrung werden Hoffnungen und Träume zunichtegemacht. Sie werden zu einer Sache der Vergangenheit, zu einer vollendeten Tatsache, auf die man weder Einfluss nehmen noch hoffen kann, sie zu erleben. Der Wechsel der Zeitform weist auf ein verlorenes Potenzial hin, bei dem das, »was sein könnte«, plötzlich zu dem wird, »was nicht mehr ist«. Das ist es, was im ersten Wort der Megilla verborgen ist.

Die Herrschaft von König Achaschwerosch steht für eben genau das, die enttäuschten Hoffnungen des jüdischen Volkes auf eine zukünftige Errettung, die nie gekommen ist. Die ersten Zeilen der Megillat Esther schildern Achaschweroschs königliches Festmahl. Dem Talmud zufolge feierte der König, dass das jüdische Volk nicht aus dem Exil befreit wurde. Unsere Propheten hatten versprochen, dass das Exil nur 70 Jahre dauern würde.

Nach Achaschweroschs Berechnungen war die versprochene Zeit der Erlösung gekommen und gegangen, aber die Juden saßen immer noch in Persien fest. In seinen Augen war dies ein wahrer Grund zum Feiern. Alle Bewohner der Hauptstadt Schuschan waren eingeladen, und viele Juden hielten es für politisch unkorrekt, abzulehnen. Sie nahmen an seinem Fest teil und feierten so die vermeintliche göttliche Vernachlässigung ihres Volkes mit. Dies war in der Tat eine Umkehrung der großen Bestimmung, die für unsere nationale Geschichte festgelegt worden war.

Achaschwerosch hatte sich verrechnet

Aber Achaschwerosch hatte sich verrechnet. Er kalkulierte den Beginn der 70 Jahre falsch, und so kam die Wende Gʼttes gerade zur rechten Zeit: Denn letztendlich führte Achaschweroschs Party zur Hinrichtung seiner bösen Königin Waschti und ihrer Ersetzung durch Königin Esther, die Heldin, die das jüdische Volk rettete. Das Fest zur Feier unseres ewigen Exils wurde zu einem wichtigen Schritt auf dem Weg zu unserer Erlösung. Unser großes Schicksal, das sich scheinbar gegen uns gewendet hatte, war nun wieder auf dem richtigen Weg, und zwar durch genau die Mechanismen, die von der persischen Herrschaft eingerichtet worden waren, um sicherzustellen, dass es keine jüdische Zukunft geben würde.

Wenn wir in der Megillat Esther weiterblättern, stoßen wir auf den bereits erwähnten rätselhaften Satz: »Wenahafoch Hu, Ascher Jischlitu HaJehudim Hema Besoneihem.« Und es wandte sich, dass die Juden über ihre Feinde siegten – so wird der Vers gemeinhin übersetzt. Die wörtliche Lesart des hebräischen Originals ist jedoch anders. Er ist fast vollständig in der Zukunftsform verfasst und wäre besser zu übersetzen mit: »Das Gegenteil wird geschehen, dass die Juden über ihre Feinde siegen werden.«

Hier, am Ende der Handlung, sehen wir eine zweite Umkehrung. Die Megilla begann damit, dass die Zukunft zur Vergangenheit wurde. Nun wird das, was sich in der Vergangenheit ereignet hat, in der Zukunftsform beschrieben. Die Umkehrung der Zukunft in die Vergangenheit, mit der die Megillat Esther beginnt, wird noch einmal umgedreht – quasi »back to the future«.

Der persische König feiert das Ende der Juden. Doch er freut sich zu früh.

Die Purimgeschichte spielt in unserem ersten Exil seit dem Einzug in das Land Israel. Das jüdische Volk hatte begonnen, zu verzweifeln und sich zu fragen, ob Gʼtt sich noch für uns interessierte. Schließlich hatten wir nicht erfüllt, was von uns verlangt wurde. Wir fühlten uns Seiner Liebe nicht würdig und fragten uns, ob sie überhaupt noch da war. Doch Gʼtt zeigte uns, dass wir völlig falsch lagen. Egal, wo wir sind, egal, wie wenig beachtenswert wir unser Schicksal empfinden – Er ist da. Zwar wird Er nicht auf übernatürliche, wundersame Weise eingreifen, wie Er es tun würde, wenn wir alles richtig machten.

Die Naturgesetze bleiben in Kraft. Haschems Name erscheint kein einziges Mal in der Megillat Esther, was beweist, dass er die Ereignisse aus dem Schatten heraus orchestriert, ohne Seine Anwesenheit zu offenbaren. Ein Skeptiker kann die gesamte Purimgeschichte auf eine Reihe von günstigen Zufällen reduzieren.

Wer offene Augen hat, sieht die väterliche Liebe und Fürsorge Gʼttes

Doch wer offene Augen hat, sieht die väterliche Liebe und Fürsorge Gʼttes, die in die Geschichte eingewoben sind. Wir waren am Tiefpunkt, und wir brauchten einen starken Weckruf in Form von Hamans bösen Plänen. Wir reagierten darauf, indem wir als Nation zusammenkamen und uns an Gʼtt wandten. Wir taten Buße, wir fasteten und richteten uns neu auf Ihn und Seine Mission für uns aus.

Sobald wir diese Nachricht erhielten, zeigte uns Gʼtt, dass Er die ganze Zeit über da war, wie Er die Ereignisse der Purimgeschichte lenkte und die Mittel für unsere Rettung vorbereitete, weit vor dem eigentlichen Vernichtungsdekret. All das tat Gʼtt, während Er sich vor seinem Volk im Exil versteckte – und damit zeigte Er uns im Nachhinein, dass Er jeden unserer Schritte beobachtete und sicherstellte, dass wir nicht fallen würden, ganz gleich, wie weit wir in die falsche Richtung abgebogen waren.

Diese Erkenntnis, diese Offenbarung, führte zu einer Welle der Liebe zu Ihm, wie wir sie als Volk nie zuvor erlebt hatten. Die Dunkelheit selbst half uns, das Licht zu schätzen. Die Verborgenheit von Gʼttes Antlitz ließ uns verstehen, wie tief seine grenzenlose Liebe zu uns geht. Und diese Botschaft trägt uns durch die Prüfungen der Geschichte bis heute. Das Fest des Königs Achaschwerosch, das zunächst der Auslöser für ein schreckliches Edikt war, wurde zum Werkzeug, das das jüdische Volk wieder mit dem Judentum in Kontakt brachte und eine neue Tiefe unserer engen Beziehung zu Gʼtt offenbarte.

Wir alle erleben Höhen und Tiefen, gute Zeiten und schwierige Zeiten. Es gibt Dinge, die wir gern getan hätten, Entscheidungen, die wir gern anders getroffen hätten, Worte, die wir gern gesagt hätten. Das sind unsere verpassten Chancen. Doch die Kraft des Purimfestes besteht darin, diese Verluste anzuerkennen und sie in neues Potenzial zu verwandeln. Wir sollten nicht in der Vergangenheit feststecken, und wir können uns auch nicht völlig von ihr abkoppeln. Aber wir können die Verluste in Gewinne umwandeln, aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen, sie annehmen und sie in unsere Zukunft einbeziehen.

Der Autor ist Programmdirektor und Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin.

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