In Megilla 7b berichtet uns der Talmud von einer unerhörten Begebenheit: »Rabba und Raw Zera hielten zusammen das Purimfestmahl ab, und als sie betrunken waren, stand Rabba auf und schlachtete Zera. Am folgenden Tag flehte er um Erbarmen und belebte ihn. Im nächsten Jahr sprach er zu ihm: Möge der Meister kommen, wir wollen zusammen das Purimfestmahl abhalten. Dieser erwiderte: Nicht jederzeit geschieht ein Wunder.«
Diese Geschichte ist so erstaunlich, dass sie offensichtlich einer Interpretation bedarf. Wohl verstehen wir, dass die zwei genannten Amoräer die Purimmahlzeit zusammen eingenommen haben und dabei auch reichlich Wein tranken. Denn unmittelbar vor der oben zitierten Talmudpassage heißt es: »Rabba sagte: Am Purimfest muss man so viel trinken, bis man zwischen ›Verflucht sei Haman‹ und ›Gepriesen sei Mordechai‹ nicht mehr zu unterscheiden vermag.«
Interpretation Der Leser fragt sich: Hat Rabba wirklich seinen Kollegen Rabbi Zera umgebracht und am nächsten Tag dessen Wiederbelebung durch ein Gebet bewirkt? In der Beantwortung dieser Frage sind die Interpreten unterschiedliche Wege gegangen. Mein gelehrter Vetter Aaron Ahrend hat in einer hebräischen Abhandlung in der wissenschaftlichen Zeitschrift »Bekohl Derakhekha Daehu« (Band 8, 5759) eine Anzahl verschiedener Deutungen nebeneinandergestellt und diese klassifiziert.
Er teilt die Interpreten in zwei Gruppen ein: in solche, die das Erzählte wörtlich nehmen, und in solche, die die Geschichte allegorisch auslegen. Die einen sagen: Rabba hat Raw Zera ohne Mordabsicht getötet, als er unter Wirkung des Alkohols stand. Durch sein Gebet hat Rabba am folgenden Tag für das Wunder der Wiederbelebung des Toten gesorgt.
Die andere Gruppe von Gelehrten, zu der unter anderem Raw Abraham (1186–1237), der Sohn von Maimonides, und Rabbi Schmuel Eliezer Edeles, der Maharscha (1555–1631), zählen, erklärt, die ganze Geschichte sei nicht wörtlich zu nehmen. Rabba habe seinen Kollegen nicht wirklich getötet, sondern ihn entweder schwer verletzt oder durch forcierten Weingenuss krank werden lassen. Dementsprechend bestand das eingetretene Wunder nicht in einer Auferstehung von den Toten, sondern in einer natürlichen Genesung.
dialog Der kurze Dialog der beiden Rabbiner am Ende der talmudischen Geschichte ist nach beiden Lesarten verständlich. Rabba wollte das Purimfestmahl wieder mit Rabbi Zera zusammen feiern und die Untat vom Vorjahr gewissermaßen wiedergutmachen. Jedoch fürchtete Rabbi Zera eine mögliche Wiederholung des Geschehens und nahm die Einladung nicht an. Wer kann es ihm verdenken?
Nach Auffassung der meisten Interpreten lautet die Moral der merkwürdigen Geschichte: Sogar große Gelehrte können durch übermäßigen Weingenuss aus der normalen Bahn geraten und dann großen Schaden anrichten. Daher heißt es im Kizzur Schulchan Aruch: »Wer aber von schwacher Natur ist und ebenso derjenige, der von sich weiß, dass er dadurch – was der Ewige behüte – irgendein Gebot oder ein Gebet geringschätzen oder zu Leichtfertigkeit kommen wird, für den ist es besser, sich nicht zu berauschen. Alle Handlungen des Menschen seien dem Ewigen zu Ehren« (142,6).